Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.das Wasser, und hätt' ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen. Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr! Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast. War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld das Wasser, und hätt' ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen. Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr! Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast. War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0053"/> das Wasser, und hätt' ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen.</p><lb/> <p>Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr!</p><lb/> <p>Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast.</p><lb/> <p>War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
das Wasser, und hätt' ihr Name nicht schon sollen ausgelöscht werden in der anderen Welt, daß die eigene Mutter sich nicht freuen darf, wenn die Tochter ins Wochenbett kommt? Gott hat sich vielleicht einen Spaß machen wollen, wenn er sagt: Ein Jeglicher fürchte seinen Vater und seine Mutter. Haltet meine Feiertage, denn ich bin der Herr, euer Gott. Sie aber hat Vater und Mutter gefürcht', daß Gott erbarm', und die Feiertage hält sie, daß es mir noch heut in den Gedärmen wie Gift schneidet, wenn ich sie am heiligen Schabbes muß sehen.
Durch eine sonderbare Gedankenverbindung mußten seine Blicke hinaus auf die Gasse fallen. Er war es seit zehn Jahren gewohnt, daß er um diese Stunde gewöhnlich seine Schwester Madlena mit ihrem Manne Pawel zur Kirche gehen sah. Seit zehn Jahren hatte ihn diese Stunde immer auf dem nämlichen Flecke gefunden, jeder Sonntag trieb über das hassende Herz dieses Menschen die schwersten Donner des Zornes zusammen. Dennoch mußte er sie sehen; er fand ein Wohlbehagen daran, die Abgefallene den Weg des Unheils und der Verderbniß gehen zu sehen und sich jeden Sonntag sagen zu können: Verschwarzt soll sie liegen; sie ist nicht werth, daß man ausspeit vor ihr!
Heute sah er Madlena's Mann allein zur Kirche gehen, und er erschrak fast.
War sie krank? Hatte sie sich vielleicht überhoben (zu sehr angestrengt)? Und er, der vielleicht Schuld
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/53>, abgerufen am 16.07.2024. |