Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah! Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach. Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig. Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter. Ich geh' schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus. -- Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen. So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe. Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur "Muhm' Dinah" begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück. Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah! Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach. Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig. Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter. Ich geh' schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus. — Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen. So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe. Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur „Muhm' Dinah“ begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <pb facs="#f0050"/> <p>Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah!</p><lb/> <p>Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach.</p><lb/> <p>Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig.</p><lb/> <p>Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter.</p><lb/> <p>Ich geh' schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus. —</p><lb/> <p>Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen.</p><lb/> <p>So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe.</p><lb/> <p>Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur „Muhm' Dinah“ begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0050]
Denn der Herr kennet den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht, schloß der Knabe. Selah!
Amen, Amen! tönte es leise von den Lippen der alten Frau nach.
Es trat eine leise Stille in der Stube ein; nur das Pochen dieser beiden Seelen, wovon die eine das letzte Glied einer langen Lebenskette hielt, während die andere kaum aus dem Erdreich ihres Daseins hervorragte, vernahm sich gegenseitig.
Fürchtest du dich noch? fragte endlich die Großmutter.
Ich geh' schon, Babe, rief Fischele fast freudig aus und schob vorsichtig das Päckchen mit Zucker und Kaffeh unter den Rock, dann schlich er leise zur Thür hinaus. —
Der ist ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und was er macht, das geräth wohl. Amen.
So sprach die alte Marjim noch lange vor sich hin, als der Knabe schon zum Hause hinaus war. Dann schloß sie die Augen wie zum Schlafe.
Wir können Fischele nicht auf seinem Gange zur „Muhm' Dinah“ begleiten; andere Vorgänge halten uns in dem einzigen Judenhause des Dorfes zurück.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/50>, abgerufen am 16.07.2024. |