Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

das in seinen Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan, denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als Leichenhof dient.

Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden.

Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das "Schmah Jisroel" zu beten, werden

das in seinen Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan, denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als Leichenhof dient.

Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden.

Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das „Schmah Jisroel“ zu beten, werden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="2">
        <p><pb facs="#f0029"/>
das in seinen                Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf                ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender                Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan,                denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als                Leichenhof dient.</p><lb/>
        <p>Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das                Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig                waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke                unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den                Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus                dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit                einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein                Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der                üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche                Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden.</p><lb/>
        <p>Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und                ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das                &#x201E;Schmah Jisroel&#x201C; zu beten, werden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] das in seinen Adern braus't, und wie wenig es bedürfe, um diese hochmüthig aufgeworfenen Lippen auf ewig zu schließen. Dennoch, wenn die Leiche hinweg ist aus dem Bereiche weinender Augen und gebrochener Herzen, wird sie vergessen und zu all den Todten eingethan, denen die menschliche Seele von ihrem ersten Ahnen, bis zu ihrem letzten Athmen als Leichenhof dient. Es giebt noch eine andere Art zu sterben, sie ist nicht minder schauerlich, als das Berühren einer wirklichen Leiche. Die Menschen haben sie erfunden, nicht das ewig waltende Naturgesetz, das sein geheimnißvolles Netz schon um die ersten Augenblicke unserer Geburt gelegt hat. Man lebt dann und ist doch gestorben, man liegt bei den Todten und geht doch aufrecht unter den Lebenden einher. Man ist herausgerissen aus dem Verband einer Familie, in der es für ein Verbrechen gilt, wenn man seiner mit einem Liebeswörtchen gedenkt, und in derselben Familie giebt es vielleicht nicht ein Glied, das sein vergessen konnte. Ein wirklicher Todter liegt längst im Grunde der üblen Erde, und ewiges Schweigen webt um ihn seine geheimnißvollen Kreise. Für solche Gestorbene sorgt nur der Haß und der Groll, daß sie nicht vergessen werden. Es ist ein Kind aus dem Hause seiner Eltern hinweggegangen und hat zwischen sich und ihnen einen anderen Gott aufgepflanzt; dieselben Lippen, die einst gelehrt ward, das „Schmah Jisroel“ zu beten, werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/29
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/29>, abgerufen am 23.11.2024.