Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Prophet zu sein, um das zu wissen. Mein Urdede hat mir's ja gesagt. -- Im Hause wurde nur leise geflüstert, seit man gewiß war, daß eine Sterbende darin lag. Die frommen Weiber setzten sich nun an das Bett der Großmutter und begannen ihr die Todesgebete vorzusagen; sie selbst war bereits zu schwach, um das Wanderbüchel zu halten. Im namenlosen Schmerz stand Madlena zu ihrem Haupte, und ihre Thränen floßen unaufhaltsam. Josseph selbst vermochte es nicht, in der Stube zu verbleiben. Gegen Mittag sprach Marjim den Wunsch aus, man möge sie jetzt allein lassen, da sie Schlaf in ihren Augen verspüre. Nur Madlena mußte zurückbleiben und sich ans Bett setzen. In ihrem Anschauen waren der alten Frau die Augen zugefallen; sie schlief. Madlena weinte bald still vor sich hin, bald überkam es sie ganz schauerlich, daß die Mutter noch nicht ihren Pawel zu sehen begehrt habe. Sie hätte aufschreien und die Schlafende aufrütteln mögen. Oft dünkte es sie, jetzt müsse sie einen Schrei ausgestoßen haben, daß das Haus davon erzitterte, und war dann erschrocken, wenn sie auf die Mutter hinsah und bemerkte, daß sie noch immer ruhig schlummere. Wenn sie jetzt stürbe? dachte sie sich. Nimmermehr konnte sie sich dann vorstellen, daß die Mutter sich vollständig mit ihr ausgesöhnt, wenn sie nicht auch ihren Pawel zu sich gerufen hätte. Prophet zu sein, um das zu wissen. Mein Urdede hat mir's ja gesagt. — Im Hause wurde nur leise geflüstert, seit man gewiß war, daß eine Sterbende darin lag. Die frommen Weiber setzten sich nun an das Bett der Großmutter und begannen ihr die Todesgebete vorzusagen; sie selbst war bereits zu schwach, um das Wanderbüchel zu halten. Im namenlosen Schmerz stand Madlena zu ihrem Haupte, und ihre Thränen floßen unaufhaltsam. Josseph selbst vermochte es nicht, in der Stube zu verbleiben. Gegen Mittag sprach Marjim den Wunsch aus, man möge sie jetzt allein lassen, da sie Schlaf in ihren Augen verspüre. Nur Madlena mußte zurückbleiben und sich ans Bett setzen. In ihrem Anschauen waren der alten Frau die Augen zugefallen; sie schlief. Madlena weinte bald still vor sich hin, bald überkam es sie ganz schauerlich, daß die Mutter noch nicht ihren Pawel zu sehen begehrt habe. Sie hätte aufschreien und die Schlafende aufrütteln mögen. Oft dünkte es sie, jetzt müsse sie einen Schrei ausgestoßen haben, daß das Haus davon erzitterte, und war dann erschrocken, wenn sie auf die Mutter hinsah und bemerkte, daß sie noch immer ruhig schlummere. Wenn sie jetzt stürbe? dachte sie sich. Nimmermehr konnte sie sich dann vorstellen, daß die Mutter sich vollständig mit ihr ausgesöhnt, wenn sie nicht auch ihren Pawel zu sich gerufen hätte. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="15"> <p><pb facs="#f0212"/> Prophet zu sein, um das zu wissen. Mein Urdede hat mir's ja gesagt. —</p><lb/> <p>Im Hause wurde nur leise geflüstert, seit man gewiß war, daß eine Sterbende darin lag. Die frommen Weiber setzten sich nun an das Bett der Großmutter und begannen ihr die Todesgebete vorzusagen; sie selbst war bereits zu schwach, um das Wanderbüchel zu halten. Im namenlosen Schmerz stand Madlena zu ihrem Haupte, und ihre Thränen floßen unaufhaltsam. Josseph selbst vermochte es nicht, in der Stube zu verbleiben.</p><lb/> <p>Gegen Mittag sprach Marjim den Wunsch aus, man möge sie jetzt allein lassen, da sie Schlaf in ihren Augen verspüre. Nur Madlena mußte zurückbleiben und sich ans Bett setzen. In ihrem Anschauen waren der alten Frau die Augen zugefallen; sie schlief.</p><lb/> <p>Madlena weinte bald still vor sich hin, bald überkam es sie ganz schauerlich, daß die Mutter noch nicht ihren Pawel zu sehen begehrt habe. Sie hätte aufschreien und die Schlafende aufrütteln mögen. Oft dünkte es sie, jetzt müsse sie einen Schrei ausgestoßen haben, daß das Haus davon erzitterte, und war dann erschrocken, wenn sie auf die Mutter hinsah und bemerkte, daß sie noch immer ruhig schlummere. Wenn sie jetzt stürbe? dachte sie sich. Nimmermehr konnte sie sich dann vorstellen, daß die Mutter sich vollständig mit ihr ausgesöhnt, wenn sie nicht auch ihren Pawel zu sich gerufen hätte.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0212]
Prophet zu sein, um das zu wissen. Mein Urdede hat mir's ja gesagt. —
Im Hause wurde nur leise geflüstert, seit man gewiß war, daß eine Sterbende darin lag. Die frommen Weiber setzten sich nun an das Bett der Großmutter und begannen ihr die Todesgebete vorzusagen; sie selbst war bereits zu schwach, um das Wanderbüchel zu halten. Im namenlosen Schmerz stand Madlena zu ihrem Haupte, und ihre Thränen floßen unaufhaltsam. Josseph selbst vermochte es nicht, in der Stube zu verbleiben.
Gegen Mittag sprach Marjim den Wunsch aus, man möge sie jetzt allein lassen, da sie Schlaf in ihren Augen verspüre. Nur Madlena mußte zurückbleiben und sich ans Bett setzen. In ihrem Anschauen waren der alten Frau die Augen zugefallen; sie schlief.
Madlena weinte bald still vor sich hin, bald überkam es sie ganz schauerlich, daß die Mutter noch nicht ihren Pawel zu sehen begehrt habe. Sie hätte aufschreien und die Schlafende aufrütteln mögen. Oft dünkte es sie, jetzt müsse sie einen Schrei ausgestoßen haben, daß das Haus davon erzitterte, und war dann erschrocken, wenn sie auf die Mutter hinsah und bemerkte, daß sie noch immer ruhig schlummere. Wenn sie jetzt stürbe? dachte sie sich. Nimmermehr konnte sie sich dann vorstellen, daß die Mutter sich vollständig mit ihr ausgesöhnt, wenn sie nicht auch ihren Pawel zu sich gerufen hätte.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/212>, abgerufen am 16.07.2024. |