Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Rasch ergriff sie die Haue und stand auf. Auf dem Wege sprachen die Beiden kein Wort. Madlena war immer um einige Schritte vorwärts. Je näher sie dem Dorfe zukamen, desto leuchtender wurde das Gesicht Josseph's, während sich auf Madlena's tiefe Bekümmerniß ausprägte. Sie hatte in diesem Augenblicke eine Mutter zu verlieren, er hatte eine Schwester wiedergewonnen. Als die Beiden mit einander durch das Dorf gingen, sah ihnen manches Auge verwundert nach. Viele schüttelten den Kopf. Beim Hause angelangt, bat Josseph die Schwester, eine kleine Weile zu gedulden, damit die Mutter durch ihre plötzliche Erscheinung nicht in jähen Schrecken versetzt werde. Nur mit Mühe konnte Josseph sie zu diesem kurzen Aufenthalt vermögen. Bei seinem Eintreten in die Stube rief Josseph: Mamme, du wirst staunen, wen ich dir hab' mitgebracht ! Weiß ich's denn nicht? fragte die alte Marjim mit heller Stimme. Dinah hast du mir mitgebracht! Madlena hatte draußen im Vorhause ihren Namen gehört. Sie riß die Thür auf, und Mutter und Tochter hatten sich wieder gefunden. Rasch ergriff sie die Haue und stand auf. Auf dem Wege sprachen die Beiden kein Wort. Madlena war immer um einige Schritte vorwärts. Je näher sie dem Dorfe zukamen, desto leuchtender wurde das Gesicht Josseph's, während sich auf Madlena's tiefe Bekümmerniß ausprägte. Sie hatte in diesem Augenblicke eine Mutter zu verlieren, er hatte eine Schwester wiedergewonnen. Als die Beiden mit einander durch das Dorf gingen, sah ihnen manches Auge verwundert nach. Viele schüttelten den Kopf. Beim Hause angelangt, bat Josseph die Schwester, eine kleine Weile zu gedulden, damit die Mutter durch ihre plötzliche Erscheinung nicht in jähen Schrecken versetzt werde. Nur mit Mühe konnte Josseph sie zu diesem kurzen Aufenthalt vermögen. Bei seinem Eintreten in die Stube rief Josseph: Mamme, du wirst staunen, wen ich dir hab' mitgebracht ! Weiß ich's denn nicht? fragte die alte Marjim mit heller Stimme. Dinah hast du mir mitgebracht! Madlena hatte draußen im Vorhause ihren Namen gehört. Sie riß die Thür auf, und Mutter und Tochter hatten sich wieder gefunden. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="14"> <pb facs="#f0209"/> <p>Rasch ergriff sie die Haue und stand auf.</p><lb/> <p>Auf dem Wege sprachen die Beiden kein Wort. Madlena war immer um einige Schritte vorwärts. Je näher sie dem Dorfe zukamen, desto leuchtender wurde das Gesicht Josseph's, während sich auf Madlena's tiefe Bekümmerniß ausprägte. Sie hatte in diesem Augenblicke eine Mutter zu verlieren, er hatte eine Schwester wiedergewonnen.</p><lb/> <p>Als die Beiden mit einander durch das Dorf gingen, sah ihnen manches Auge verwundert nach. Viele schüttelten den Kopf.</p><lb/> <p>Beim Hause angelangt, bat Josseph die Schwester, eine kleine Weile zu gedulden, damit die Mutter durch ihre plötzliche Erscheinung nicht in jähen Schrecken versetzt werde. Nur mit Mühe konnte Josseph sie zu diesem kurzen Aufenthalt vermögen.</p><lb/> <p>Bei seinem Eintreten in die Stube rief Josseph:</p><lb/> <p>Mamme, du wirst staunen, wen ich dir hab' mitgebracht !</p><lb/> <p>Weiß ich's denn nicht? fragte die alte Marjim mit heller Stimme. Dinah hast du mir mitgebracht!</p><lb/> <p>Madlena hatte draußen im Vorhause ihren Namen gehört. Sie riß die Thür auf, und Mutter und Tochter hatten sich wieder gefunden.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0209]
Rasch ergriff sie die Haue und stand auf.
Auf dem Wege sprachen die Beiden kein Wort. Madlena war immer um einige Schritte vorwärts. Je näher sie dem Dorfe zukamen, desto leuchtender wurde das Gesicht Josseph's, während sich auf Madlena's tiefe Bekümmerniß ausprägte. Sie hatte in diesem Augenblicke eine Mutter zu verlieren, er hatte eine Schwester wiedergewonnen.
Als die Beiden mit einander durch das Dorf gingen, sah ihnen manches Auge verwundert nach. Viele schüttelten den Kopf.
Beim Hause angelangt, bat Josseph die Schwester, eine kleine Weile zu gedulden, damit die Mutter durch ihre plötzliche Erscheinung nicht in jähen Schrecken versetzt werde. Nur mit Mühe konnte Josseph sie zu diesem kurzen Aufenthalt vermögen.
Bei seinem Eintreten in die Stube rief Josseph:
Mamme, du wirst staunen, wen ich dir hab' mitgebracht !
Weiß ich's denn nicht? fragte die alte Marjim mit heller Stimme. Dinah hast du mir mitgebracht!
Madlena hatte draußen im Vorhause ihren Namen gehört. Sie riß die Thür auf, und Mutter und Tochter hatten sich wieder gefunden.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/209>, abgerufen am 16.07.2024. |