Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies. Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis' nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen. Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor. Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter. Jetzt hab' ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut. Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme. Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen. Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies. Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis' nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen. Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor. Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter. Jetzt hab' ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut. Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme. Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen. Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0020"/> unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies.</p><lb/> <p>Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis' nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen.</p><lb/> <p>Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor.</p><lb/> <p>Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter.</p><lb/> <p>Jetzt hab' ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut.</p><lb/> <p>Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme.</p><lb/> <p>Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen.</p><lb/> <p>Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
unhörbar zur Großmutter, indem er mit dem Finger auf die letzte Bäuerin in der betenden Gruppe hinwies.
Um Gotts Willen, sagte diese erschrocken, weis' nicht mit dem Finger hin, du weißt, wie sie sind; sie meinen hernach, man macht sich ein Gespött aus ihnen. Ist sie denn auch dabei? fragte sie flüsternd; der Knabe stockte eine Weile mit der Antwort, dann sagte er rasch: Ich hab's gut gesehen, sie hat's gemacht wie die Anderen.
Ein dumpfer Ton, unbeschreiblich in seiner Höhe und Tiefe, kam aus der Brust der alten Frau hervor.
Die betende Gruppe hatte sich indessen aufgelös't; das Läuten endigte mit einem kräftigen Schlage des Klöppels an die eherne Glocke, da begann es nach einer kurzen Rast wieder zum zweiten Male. Wieder sammelten sich die Beter.
Jetzt hab' ich's gut gesehen, schrie Fischele mit gewaltsam unterdrücktem Laut.
Was hast du gesehen? sprach die Großmutter mit zitternder Stimme.
Sie hat das Kreuz über sich gemacht, sagte der Knabe, und es schien, als hätte der Schauer, in den sich diese Worte kleideten, die geheimsten Nerven in seinem Leibe zum Aufruhr gebracht. Das Kind war blaß geworden wie ein weißes Linnen.
Die alte Frau saß stumm und lautlos da; der Kopf war ihr auf die Brust herabgesunken. Die Glocke begann ihr drittes Geläute; diesmal sprach der Knabe
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/20>, abgerufen am 25.07.2024. |