Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Dinah! sagte Josseph in den weichsten Klängen seiner Stimme und streckte seine Arme gegen sie aus. Als Madlena sich bei ihrem eigentlichen Namen angerufen hörte, ließ sie die Hände von ihrem Angesichte sinken; sie wankte einige Schritte vorwärts gegen ihn, fast ohnmächtig, leblos beinahe; er fing sie in seinen Armen auf. . . . Eine lange Weile weinte sich Josseph an ihrem Halse aus. Madlena war keines Wortes mächtig. Als sie Josseph wieder aus der Umarmung ließ, stand sie ihm mit gefalteten Händen wie bittend gegenüber, noch immer vor Schrecken bleich ihn sprachlos anstarrend. Kein Wort des Verständnisses ward zwischen Beiden in diesen ersten Augenblicken gewechselt. Josseph hatte ihr nichts zu sagen, er schaute die Wiedergewonnene mit leuchtenden Augen an; sein ganzes Wesen zitterte vor tiefster Erregtheit. Wie wenig bedarf's doch, um einen jahrelang behaupteten Groll, um eine verjährte Säure des Gemüthes von sich abzuwerfen; wie rasch sagt es sich hier ein Blick dem andern, was man Alles vergessen kann und in den Strom der Vergangenheit geworfen hat! Josseph geleitete Madlena zu dem Raine, auf den sie sich ermüdet, wie sie war, niederlassen mußte; er setzte sich neben sie. Erst jetzt kam es zwischen den Geschwistern zu einem Gespräche. Dinah! sagte Josseph in den weichsten Klängen seiner Stimme und streckte seine Arme gegen sie aus. Als Madlena sich bei ihrem eigentlichen Namen angerufen hörte, ließ sie die Hände von ihrem Angesichte sinken; sie wankte einige Schritte vorwärts gegen ihn, fast ohnmächtig, leblos beinahe; er fing sie in seinen Armen auf. . . . Eine lange Weile weinte sich Josseph an ihrem Halse aus. Madlena war keines Wortes mächtig. Als sie Josseph wieder aus der Umarmung ließ, stand sie ihm mit gefalteten Händen wie bittend gegenüber, noch immer vor Schrecken bleich ihn sprachlos anstarrend. Kein Wort des Verständnisses ward zwischen Beiden in diesen ersten Augenblicken gewechselt. Josseph hatte ihr nichts zu sagen, er schaute die Wiedergewonnene mit leuchtenden Augen an; sein ganzes Wesen zitterte vor tiefster Erregtheit. Wie wenig bedarf's doch, um einen jahrelang behaupteten Groll, um eine verjährte Säure des Gemüthes von sich abzuwerfen; wie rasch sagt es sich hier ein Blick dem andern, was man Alles vergessen kann und in den Strom der Vergangenheit geworfen hat! Josseph geleitete Madlena zu dem Raine, auf den sie sich ermüdet, wie sie war, niederlassen mußte; er setzte sich neben sie. Erst jetzt kam es zwischen den Geschwistern zu einem Gespräche. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="14"> <pb facs="#f0198"/> <p>Dinah! sagte Josseph in den weichsten Klängen seiner Stimme und streckte seine Arme gegen sie aus.</p><lb/> <p>Als Madlena sich bei ihrem eigentlichen Namen angerufen hörte, ließ sie die Hände von ihrem Angesichte sinken; sie wankte einige Schritte vorwärts gegen ihn, fast ohnmächtig, leblos beinahe; er fing sie in seinen Armen auf. . . .</p><lb/> <p>Eine lange Weile weinte sich Josseph an ihrem Halse aus. Madlena war keines Wortes mächtig. Als sie Josseph wieder aus der Umarmung ließ, stand sie ihm mit gefalteten Händen wie bittend gegenüber, noch immer vor Schrecken bleich ihn sprachlos anstarrend.</p><lb/> <p>Kein Wort des Verständnisses ward zwischen Beiden in diesen ersten Augenblicken gewechselt. Josseph hatte ihr nichts zu sagen, er schaute die Wiedergewonnene mit leuchtenden Augen an; sein ganzes Wesen zitterte vor tiefster Erregtheit.</p><lb/> <p>Wie wenig bedarf's doch, um einen jahrelang behaupteten Groll, um eine verjährte Säure des Gemüthes von sich abzuwerfen; wie rasch sagt es sich hier ein Blick dem andern, was man Alles vergessen kann und in den Strom der Vergangenheit geworfen hat!</p><lb/> <p>Josseph geleitete Madlena zu dem Raine, auf den sie sich ermüdet, wie sie war, niederlassen mußte; er setzte sich neben sie. Erst jetzt kam es zwischen den Geschwistern zu einem Gespräche.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0198]
Dinah! sagte Josseph in den weichsten Klängen seiner Stimme und streckte seine Arme gegen sie aus.
Als Madlena sich bei ihrem eigentlichen Namen angerufen hörte, ließ sie die Hände von ihrem Angesichte sinken; sie wankte einige Schritte vorwärts gegen ihn, fast ohnmächtig, leblos beinahe; er fing sie in seinen Armen auf. . . .
Eine lange Weile weinte sich Josseph an ihrem Halse aus. Madlena war keines Wortes mächtig. Als sie Josseph wieder aus der Umarmung ließ, stand sie ihm mit gefalteten Händen wie bittend gegenüber, noch immer vor Schrecken bleich ihn sprachlos anstarrend.
Kein Wort des Verständnisses ward zwischen Beiden in diesen ersten Augenblicken gewechselt. Josseph hatte ihr nichts zu sagen, er schaute die Wiedergewonnene mit leuchtenden Augen an; sein ganzes Wesen zitterte vor tiefster Erregtheit.
Wie wenig bedarf's doch, um einen jahrelang behaupteten Groll, um eine verjährte Säure des Gemüthes von sich abzuwerfen; wie rasch sagt es sich hier ein Blick dem andern, was man Alles vergessen kann und in den Strom der Vergangenheit geworfen hat!
Josseph geleitete Madlena zu dem Raine, auf den sie sich ermüdet, wie sie war, niederlassen mußte; er setzte sich neben sie. Erst jetzt kam es zwischen den Geschwistern zu einem Gespräche.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/198>, abgerufen am 17.02.2025. |