Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Ist die Schrift wirklich von unserem Urdede? fragte er. Wenn ich dir sag', daß mir's die Mamme auf ihrem Sterbebette übergeben hat, entgegnete Marjim fast verletzt durch diesen Zweifel an der Aechtheit ihres Manuscriptes. Merkwürdig, sagte Josseph, was der Urdede für eine eiserne Schrift gehabt hat. War er denn nicht ein großer und merkwürdiger Mann? rief Marjim mit großem Stolze. Jetzt red aber nicht lange und lies vor, was da drin geschrieben steht, ich muß doch wissen, um antworten zu können. -- Es war spät in der Nacht, als Josseph zu lesen begann. Er nahm die noch leserlichen unversehrten Blätter; die Schrift war deutlich und wie "gedruckt" und ließ sich ohne Anstrengung durchfliegen. Josseph las: So hat gesprochen Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, als er das Volk sah, und ist auf einen Berg gegangen und hat seinen Mund aufgethan, auf daß er es lehre. Gesegnet sind diejenigen, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. Gesegnet sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Gesegnet sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Ist die Schrift wirklich von unserem Urdede? fragte er. Wenn ich dir sag', daß mir's die Mamme auf ihrem Sterbebette übergeben hat, entgegnete Marjim fast verletzt durch diesen Zweifel an der Aechtheit ihres Manuscriptes. Merkwürdig, sagte Josseph, was der Urdede für eine eiserne Schrift gehabt hat. War er denn nicht ein großer und merkwürdiger Mann? rief Marjim mit großem Stolze. Jetzt red aber nicht lange und lies vor, was da drin geschrieben steht, ich muß doch wissen, um antworten zu können. — Es war spät in der Nacht, als Josseph zu lesen begann. Er nahm die noch leserlichen unversehrten Blätter; die Schrift war deutlich und wie „gedruckt“ und ließ sich ohne Anstrengung durchfliegen. Josseph las: So hat gesprochen Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, als er das Volk sah, und ist auf einen Berg gegangen und hat seinen Mund aufgethan, auf daß er es lehre. Gesegnet sind diejenigen, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr. Gesegnet sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Gesegnet sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <pb facs="#f0181"/> <p>Ist die Schrift wirklich von unserem Urdede? fragte er.</p><lb/> <p>Wenn ich dir sag', daß mir's die Mamme auf ihrem Sterbebette übergeben hat, entgegnete Marjim fast verletzt durch diesen Zweifel an der Aechtheit ihres Manuscriptes.</p><lb/> <p>Merkwürdig, sagte Josseph, was der Urdede für eine eiserne Schrift gehabt hat.</p><lb/> <p>War er denn nicht ein großer und merkwürdiger Mann? rief Marjim mit großem Stolze. Jetzt red aber nicht lange und lies vor, was da drin geschrieben steht, ich muß doch wissen, um antworten zu können. —</p><lb/> <p>Es war spät in der Nacht, als Josseph zu lesen begann. Er nahm die noch leserlichen unversehrten Blätter; die Schrift war deutlich und wie „gedruckt“ und ließ sich ohne Anstrengung durchfliegen.</p><lb/> <p>Josseph las:</p><lb/> <p>So hat gesprochen Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, als er das Volk sah, und ist auf einen Berg gegangen und hat seinen Mund aufgethan, auf daß er es lehre.</p><lb/> <p>Gesegnet sind diejenigen, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.</p><lb/> <p>Gesegnet sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.</p><lb/> <p>Gesegnet sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0181]
Ist die Schrift wirklich von unserem Urdede? fragte er.
Wenn ich dir sag', daß mir's die Mamme auf ihrem Sterbebette übergeben hat, entgegnete Marjim fast verletzt durch diesen Zweifel an der Aechtheit ihres Manuscriptes.
Merkwürdig, sagte Josseph, was der Urdede für eine eiserne Schrift gehabt hat.
War er denn nicht ein großer und merkwürdiger Mann? rief Marjim mit großem Stolze. Jetzt red aber nicht lange und lies vor, was da drin geschrieben steht, ich muß doch wissen, um antworten zu können. —
Es war spät in der Nacht, als Josseph zu lesen begann. Er nahm die noch leserlichen unversehrten Blätter; die Schrift war deutlich und wie „gedruckt“ und ließ sich ohne Anstrengung durchfliegen.
Josseph las:
So hat gesprochen Jischai, der Sohn Josseph's und der Marjim, als er das Volk sah, und ist auf einen Berg gegangen und hat seinen Mund aufgethan, auf daß er es lehre.
Gesegnet sind diejenigen, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.
Gesegnet sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Gesegnet sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/181>, abgerufen am 28.06.2024. |