Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.könne der Mutter nicht sagen, was er Alles gelitten, es ginge nicht auf zehn Bücher zu schreiben. Gestorben wenn sie wäre, nämlich Madlena, er hätte vielleicht geweint um sie, so lebte sie aber und sei ihm zur täglichen Qual. Er habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht Sünde wäre, so an seiner eigenen Schwester zu handeln, aber Gott selbst, der da spricht: Wer zu seinem Bruder und zu seiner Schwester sagt, ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir, habe ihm Recht gegeben. Was der Mensch thun solle, wo Gott selbst so deutlich spreche? Noch vor drei Wochen sei dieser Haß gegen Madlena in ein großes Unrecht, das er wohl fühle, ausgebrochen, aber er sei einem dunkeln Drange gefolgt, der ihn nicht habe anders handeln lassen. Und doch, so gut er wisse, wie er das vollste Recht habe gegen Madlena, so und nicht anders zu thun, sei er mit ihr doch nicht fertig, immer mahne ihn etwas an sie, er werde nicht eher Ruhe vor ihr haben, bis nicht entweder sie oder er gestorben wäre und in der Erde liege. -- So hatte Josseph gesprochen und in einer Viertelstunde all die Säure des Lebens von sich abgeworfen, die zehn lange Jahre in ihm aufgehäuft. Als er geendigt, sah er seiner Mutter forschend, fast ängstlich auf die Lippen, welche Gegenrede sie ihm bringen würden. Die alte Marjim lag aber regungslos da; nicht das leiseste Zucken eines Gesichtsmuskels ward offenbar; der ganze Redestrom schien ungehört an ihrem könne der Mutter nicht sagen, was er Alles gelitten, es ginge nicht auf zehn Bücher zu schreiben. Gestorben wenn sie wäre, nämlich Madlena, er hätte vielleicht geweint um sie, so lebte sie aber und sei ihm zur täglichen Qual. Er habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht Sünde wäre, so an seiner eigenen Schwester zu handeln, aber Gott selbst, der da spricht: Wer zu seinem Bruder und zu seiner Schwester sagt, ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir, habe ihm Recht gegeben. Was der Mensch thun solle, wo Gott selbst so deutlich spreche? Noch vor drei Wochen sei dieser Haß gegen Madlena in ein großes Unrecht, das er wohl fühle, ausgebrochen, aber er sei einem dunkeln Drange gefolgt, der ihn nicht habe anders handeln lassen. Und doch, so gut er wisse, wie er das vollste Recht habe gegen Madlena, so und nicht anders zu thun, sei er mit ihr doch nicht fertig, immer mahne ihn etwas an sie, er werde nicht eher Ruhe vor ihr haben, bis nicht entweder sie oder er gestorben wäre und in der Erde liege. — So hatte Josseph gesprochen und in einer Viertelstunde all die Säure des Lebens von sich abgeworfen, die zehn lange Jahre in ihm aufgehäuft. Als er geendigt, sah er seiner Mutter forschend, fast ängstlich auf die Lippen, welche Gegenrede sie ihm bringen würden. Die alte Marjim lag aber regungslos da; nicht das leiseste Zucken eines Gesichtsmuskels ward offenbar; der ganze Redestrom schien ungehört an ihrem <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <p><pb facs="#f0178"/> könne der Mutter nicht sagen, was er Alles gelitten, es ginge nicht auf zehn Bücher zu schreiben. Gestorben wenn sie wäre, nämlich Madlena, er hätte vielleicht geweint um sie, so lebte sie aber und sei ihm zur täglichen Qual. Er habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht Sünde wäre, so an seiner eigenen Schwester zu handeln, aber Gott selbst, der da spricht: Wer zu seinem Bruder und zu seiner Schwester sagt, ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir, habe ihm Recht gegeben. Was der Mensch thun solle, wo Gott selbst so deutlich spreche? Noch vor drei Wochen sei dieser Haß gegen Madlena in ein großes Unrecht, das er wohl fühle, ausgebrochen, aber er sei einem dunkeln Drange gefolgt, der ihn nicht habe anders handeln lassen. Und doch, so gut er wisse, wie er das vollste Recht habe gegen Madlena, so und nicht anders zu thun, sei er mit ihr doch nicht fertig, immer mahne ihn etwas an sie, er werde nicht eher Ruhe vor ihr haben, bis nicht entweder sie oder er gestorben wäre und in der Erde liege. —</p><lb/> <p>So hatte Josseph gesprochen und in einer Viertelstunde all die Säure des Lebens von sich abgeworfen, die zehn lange Jahre in ihm aufgehäuft. Als er geendigt, sah er seiner Mutter forschend, fast ängstlich auf die Lippen, welche Gegenrede sie ihm bringen würden. Die alte Marjim lag aber regungslos da; nicht das leiseste Zucken eines Gesichtsmuskels ward offenbar; der ganze Redestrom schien ungehört an ihrem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0178]
könne der Mutter nicht sagen, was er Alles gelitten, es ginge nicht auf zehn Bücher zu schreiben. Gestorben wenn sie wäre, nämlich Madlena, er hätte vielleicht geweint um sie, so lebte sie aber und sei ihm zur täglichen Qual. Er habe oft darüber nachgedacht, ob es nicht Sünde wäre, so an seiner eigenen Schwester zu handeln, aber Gott selbst, der da spricht: Wer zu seinem Bruder und zu seiner Schwester sagt, ich kenne dich nicht, ich weiß nichts von dir, habe ihm Recht gegeben. Was der Mensch thun solle, wo Gott selbst so deutlich spreche? Noch vor drei Wochen sei dieser Haß gegen Madlena in ein großes Unrecht, das er wohl fühle, ausgebrochen, aber er sei einem dunkeln Drange gefolgt, der ihn nicht habe anders handeln lassen. Und doch, so gut er wisse, wie er das vollste Recht habe gegen Madlena, so und nicht anders zu thun, sei er mit ihr doch nicht fertig, immer mahne ihn etwas an sie, er werde nicht eher Ruhe vor ihr haben, bis nicht entweder sie oder er gestorben wäre und in der Erde liege. —
So hatte Josseph gesprochen und in einer Viertelstunde all die Säure des Lebens von sich abgeworfen, die zehn lange Jahre in ihm aufgehäuft. Als er geendigt, sah er seiner Mutter forschend, fast ängstlich auf die Lippen, welche Gegenrede sie ihm bringen würden. Die alte Marjim lag aber regungslos da; nicht das leiseste Zucken eines Gesichtsmuskels ward offenbar; der ganze Redestrom schien ungehört an ihrem
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/178>, abgerufen am 17.02.2025. |