Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.oder ist dir wirklich etwas schief gegangen, und du verschweigst mir's? Das Geschäft geht gut, antwortete er leise, da kann ich dir drauf schwören, möcht' alles Andere so gut gehen! Und das trägst du in dir und verzehrst dich daran? sagte sie im Tone eines milden Vorwurfs, du bist ja seit einiger Zeit, als ob dir deine Mamme nicht erst in drei Tagen wird sterben, als ob sie schon seit zwanzig Jahren gestorben wär'? Meinst du, das ist nicht auch eine Sünde, wenn man an seiner Mamme vorbeigeht, als ob sie gar nicht da wär' in der Welt? Versündige dich nicht, Josseph, es giebt nur Eine Mutter, und wenn die fort ist, kannst du lange suchen, bis du eine findest. Das weiß ich, Mamme, sagte Josseph stockend, aber was mir fehlt, das kann ich dir doch nicht sagen. Er kann nicht, er kann nicht! rief die alte Frau mit einem Anfluge von Groll. Da seh' mir Einer den Menschen an, der zu seiner Mutter sagt: ich kann nicht. Und meinst du denn, deine Mamme, wenn sie auch alt und schwach ist, hat keine Augen im Kopf gehabt und hat nicht gesehen bis auf den Grund von deiner Seele? Lern du nur nicht einer Mutter ihr Kind ausforschen: die ist von Gott und für Gott eingesetzt. Gott hat sich gedacht: ich, kann nicht überall sein, und da hat er dem Menschen eine Mutter gegeben. oder ist dir wirklich etwas schief gegangen, und du verschweigst mir's? Das Geschäft geht gut, antwortete er leise, da kann ich dir drauf schwören, möcht' alles Andere so gut gehen! Und das trägst du in dir und verzehrst dich daran? sagte sie im Tone eines milden Vorwurfs, du bist ja seit einiger Zeit, als ob dir deine Mamme nicht erst in drei Tagen wird sterben, als ob sie schon seit zwanzig Jahren gestorben wär'? Meinst du, das ist nicht auch eine Sünde, wenn man an seiner Mamme vorbeigeht, als ob sie gar nicht da wär' in der Welt? Versündige dich nicht, Josseph, es giebt nur Eine Mutter, und wenn die fort ist, kannst du lange suchen, bis du eine findest. Das weiß ich, Mamme, sagte Josseph stockend, aber was mir fehlt, das kann ich dir doch nicht sagen. Er kann nicht, er kann nicht! rief die alte Frau mit einem Anfluge von Groll. Da seh' mir Einer den Menschen an, der zu seiner Mutter sagt: ich kann nicht. Und meinst du denn, deine Mamme, wenn sie auch alt und schwach ist, hat keine Augen im Kopf gehabt und hat nicht gesehen bis auf den Grund von deiner Seele? Lern du nur nicht einer Mutter ihr Kind ausforschen: die ist von Gott und für Gott eingesetzt. Gott hat sich gedacht: ich, kann nicht überall sein, und da hat er dem Menschen eine Mutter gegeben. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="12"> <p><pb facs="#f0176"/> oder ist dir wirklich etwas schief gegangen, und du verschweigst mir's?</p><lb/> <p>Das Geschäft geht gut, antwortete er leise, da kann ich dir drauf schwören, möcht' alles Andere so gut gehen!</p><lb/> <p>Und das trägst du in dir und verzehrst dich daran? sagte sie im Tone eines milden Vorwurfs, du bist ja seit einiger Zeit, als ob dir deine Mamme nicht erst in drei Tagen wird sterben, als ob sie schon seit zwanzig Jahren gestorben wär'? Meinst du, das ist nicht auch eine Sünde, wenn man an seiner Mamme vorbeigeht, als ob sie gar nicht da wär' in der Welt? Versündige dich nicht, Josseph, es giebt nur Eine Mutter, und wenn die fort ist, kannst du lange suchen, bis du eine findest.</p><lb/> <p>Das weiß ich, Mamme, sagte Josseph stockend, aber was mir fehlt, das kann ich dir doch nicht sagen.</p><lb/> <p>Er kann nicht, er kann nicht! rief die alte Frau mit einem Anfluge von Groll. Da seh' mir Einer den Menschen an, der zu seiner Mutter sagt: ich kann nicht. Und meinst du denn, deine Mamme, wenn sie auch alt und schwach ist, hat keine Augen im Kopf gehabt und hat nicht gesehen bis auf den Grund von deiner Seele? Lern du nur nicht einer Mutter ihr Kind ausforschen: die ist von Gott und für Gott eingesetzt. Gott hat sich gedacht: ich, kann nicht überall sein, und da hat er dem Menschen eine Mutter gegeben.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0176]
oder ist dir wirklich etwas schief gegangen, und du verschweigst mir's?
Das Geschäft geht gut, antwortete er leise, da kann ich dir drauf schwören, möcht' alles Andere so gut gehen!
Und das trägst du in dir und verzehrst dich daran? sagte sie im Tone eines milden Vorwurfs, du bist ja seit einiger Zeit, als ob dir deine Mamme nicht erst in drei Tagen wird sterben, als ob sie schon seit zwanzig Jahren gestorben wär'? Meinst du, das ist nicht auch eine Sünde, wenn man an seiner Mamme vorbeigeht, als ob sie gar nicht da wär' in der Welt? Versündige dich nicht, Josseph, es giebt nur Eine Mutter, und wenn die fort ist, kannst du lange suchen, bis du eine findest.
Das weiß ich, Mamme, sagte Josseph stockend, aber was mir fehlt, das kann ich dir doch nicht sagen.
Er kann nicht, er kann nicht! rief die alte Frau mit einem Anfluge von Groll. Da seh' mir Einer den Menschen an, der zu seiner Mutter sagt: ich kann nicht. Und meinst du denn, deine Mamme, wenn sie auch alt und schwach ist, hat keine Augen im Kopf gehabt und hat nicht gesehen bis auf den Grund von deiner Seele? Lern du nur nicht einer Mutter ihr Kind ausforschen: die ist von Gott und für Gott eingesetzt. Gott hat sich gedacht: ich, kann nicht überall sein, und da hat er dem Menschen eine Mutter gegeben.
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/176>, abgerufen am 17.02.2025. |