Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.vergreift! Lügen hat er dir eingeredet, dein Pfarrer, daß sie nicht größer sein könnten. Der Jud ist gar nicht so, mir kannst du es so gut glauben, als deinem Geistlichen, so nicht. Meinst du denn wirklich, ich könnt' das meiner Schwester thun? Nicht ein Haar auf ihrem Kopfe könnt' ich ja anrühren! Die letzten Worte sprach er mit jenem stockenden Tone, der die innere Selbstanklage schwer übertäubte; er stammelte sie fast; indem er sie sprach, schrillte eine andere Stimme in ihm, die ganz anders lautete. Aber konnte er denn anders sprechen? Wie wunderbar mußte es diesen Mann überkommen haben, daß er vor seiner eigenen Magd, die ihm gedient, und der er ein Herr gewesen, sein innerstes Leben so darthat, daß er sich demüthigte vor ihr, und es für nöthig hielt, Entschuldigungsgründe vor ihr zu stammeln! Ja, wunderbar muß es ihn überkommen haben, und der Geist dieser Stunde muß ein gewaltiger gewesen sein, daß er sich erheben konnte aus dem Staube, in den ihn eine einfache Erzählung der Magd geworfen hatte, sich aufrichten aus dem Drangsal, das mit feuriger Zunge zu ihm redete, und dennoch sagen: das ist nicht wahr, es ist eine ungeheure Lüge. Als die Magd nach dieser Erklärung stumm und verwirrt zu ihm aufblickte, fühlte er erst und wußte es, was er zu ihr gesprochen. Glaub's ja nicht, Anezka, rief er noch einmal, vergreift! Lügen hat er dir eingeredet, dein Pfarrer, daß sie nicht größer sein könnten. Der Jud ist gar nicht so, mir kannst du es so gut glauben, als deinem Geistlichen, so nicht. Meinst du denn wirklich, ich könnt' das meiner Schwester thun? Nicht ein Haar auf ihrem Kopfe könnt' ich ja anrühren! Die letzten Worte sprach er mit jenem stockenden Tone, der die innere Selbstanklage schwer übertäubte; er stammelte sie fast; indem er sie sprach, schrillte eine andere Stimme in ihm, die ganz anders lautete. Aber konnte er denn anders sprechen? Wie wunderbar mußte es diesen Mann überkommen haben, daß er vor seiner eigenen Magd, die ihm gedient, und der er ein Herr gewesen, sein innerstes Leben so darthat, daß er sich demüthigte vor ihr, und es für nöthig hielt, Entschuldigungsgründe vor ihr zu stammeln! Ja, wunderbar muß es ihn überkommen haben, und der Geist dieser Stunde muß ein gewaltiger gewesen sein, daß er sich erheben konnte aus dem Staube, in den ihn eine einfache Erzählung der Magd geworfen hatte, sich aufrichten aus dem Drangsal, das mit feuriger Zunge zu ihm redete, und dennoch sagen: das ist nicht wahr, es ist eine ungeheure Lüge. Als die Magd nach dieser Erklärung stumm und verwirrt zu ihm aufblickte, fühlte er erst und wußte es, was er zu ihr gesprochen. Glaub's ja nicht, Anezka, rief er noch einmal, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="11"> <p><pb facs="#f0163"/> vergreift! Lügen hat er dir eingeredet, dein Pfarrer, daß sie nicht größer sein könnten. Der Jud ist gar nicht so, mir kannst du es so gut glauben, als deinem Geistlichen, so nicht. Meinst du denn wirklich, ich könnt' das meiner Schwester thun? Nicht ein Haar auf ihrem Kopfe könnt' ich ja anrühren!</p><lb/> <p>Die letzten Worte sprach er mit jenem stockenden Tone, der die innere Selbstanklage schwer übertäubte; er stammelte sie fast; indem er sie sprach, schrillte eine andere Stimme in ihm, die ganz anders lautete. Aber konnte er denn anders sprechen?</p><lb/> <p>Wie wunderbar mußte es diesen Mann überkommen haben, daß er vor seiner eigenen Magd, die ihm gedient, und der er ein Herr gewesen, sein innerstes Leben so darthat, daß er sich demüthigte vor ihr, und es für nöthig hielt, Entschuldigungsgründe vor ihr zu stammeln! Ja, wunderbar muß es ihn überkommen haben, und der Geist dieser Stunde muß ein gewaltiger gewesen sein, daß er sich erheben konnte aus dem Staube, in den ihn eine einfache Erzählung der Magd geworfen hatte, sich aufrichten aus dem Drangsal, das mit feuriger Zunge zu ihm redete, und dennoch sagen: das ist nicht wahr, es ist eine ungeheure Lüge.</p><lb/> <p>Als die Magd nach dieser Erklärung stumm und verwirrt zu ihm aufblickte, fühlte er erst und wußte es, was er zu ihr gesprochen.</p><lb/> <p>Glaub's ja nicht, Anezka, rief er noch einmal,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0163]
vergreift! Lügen hat er dir eingeredet, dein Pfarrer, daß sie nicht größer sein könnten. Der Jud ist gar nicht so, mir kannst du es so gut glauben, als deinem Geistlichen, so nicht. Meinst du denn wirklich, ich könnt' das meiner Schwester thun? Nicht ein Haar auf ihrem Kopfe könnt' ich ja anrühren!
Die letzten Worte sprach er mit jenem stockenden Tone, der die innere Selbstanklage schwer übertäubte; er stammelte sie fast; indem er sie sprach, schrillte eine andere Stimme in ihm, die ganz anders lautete. Aber konnte er denn anders sprechen?
Wie wunderbar mußte es diesen Mann überkommen haben, daß er vor seiner eigenen Magd, die ihm gedient, und der er ein Herr gewesen, sein innerstes Leben so darthat, daß er sich demüthigte vor ihr, und es für nöthig hielt, Entschuldigungsgründe vor ihr zu stammeln! Ja, wunderbar muß es ihn überkommen haben, und der Geist dieser Stunde muß ein gewaltiger gewesen sein, daß er sich erheben konnte aus dem Staube, in den ihn eine einfache Erzählung der Magd geworfen hatte, sich aufrichten aus dem Drangsal, das mit feuriger Zunge zu ihm redete, und dennoch sagen: das ist nicht wahr, es ist eine ungeheure Lüge.
Als die Magd nach dieser Erklärung stumm und verwirrt zu ihm aufblickte, fühlte er erst und wußte es, was er zu ihr gesprochen.
Glaub's ja nicht, Anezka, rief er noch einmal,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |