Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt? Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? . . . Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu. Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt? Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? . . . Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu. Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0011"/> dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt?</p><lb/> <p>Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? . . .</p><lb/> <p>Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu.</p><lb/> <p>Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
dröhnen lassen? Haben sie dem Munde geboten, das unzüchtige Lied nicht zu pfeifen, wenn ein Anderer die Festtagsgebete des Herrn vor sich hinspricht? Mit Elle und Waarenpack geht der Mann an der Kirche vorüber, aus der die sonntägliche Orgel ihre Töne herausschickt. Machen sie ihn stille stehen? Beflügeln sie nicht vielmehr seinen Schritt?
Könnten sie Alle, die um Freiheit ringen, sich dazu verstehen, den Tag des Herrn, als den Tag innerer und äußerer Befreiung, zugleich zu feiern, wären sie dann nicht frei? . . .
Aus solcherlei Gedanken heraus werden wir durch den mahnenden Ruf gerissen, uns mit den Bewohnern dieses Hauses näher zu befreunden. Treten wir hinzu.
Auf der hölzernen Bank, die sich zwischen den zwei mittleren Fenstern befindet, sitzt ein altes Mütterchen. Grüßt sie mit eurem besten Gruße, tretet leise und andächtig zu ihr hin, denn das Alter hat sie geheiligt! Wie sie dasitzt mit in einander gefalteten Händen, den Kopf, der das Aufrechtsehen verlernt hat, nach der Brust geneigt, über sich eine volle Glorie verschwenderisch flutender Sonnenstrahlen ausgebreitet, daß das runzlige Antlitz oft von einer wunderbaren, nicht mehr irdischen Durchsichtbarkeit erscheint, ist sie nicht ein rührend schönes Bild? Und ihr würdet mein Mütterchen noch viel tausend Mal schöner finden, wenn ihr sie so kennen würdet, als die goldigen Sonnenstrahlen, die seit fünfzig und mehr Jahren über
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/11>, abgerufen am 25.07.2024. |