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Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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unbewachter Stunde sich anzueignen? Gab es ein schrecklicheres Leben als das seine?

Aber nicht immer hatte dieser finstere Geist der Unruhe Gewalt über ihn. Es gab Stunden, wo er, wenn der biblische Fluch sich ihm mit aller Schwere aufbürdete, plötzlich mit aller Entschiedenheit einer glaubensstarken Seele sich selber fragte: und paßt denn das Alles auch ganz so, wie es da geschrieben steht, auf dich? In der Thora ist die Red' nur von denen, die der Stimme des Herrn, ihres Gottes, nicht gehorchen, die nicht halten und befolgen alle seine Gebote und Rechte; über die kommen alle die Flüche. Wer aber kann von mir sagen: Josseph, du bist ein schlechter Jud, du fahrst und reitst am Schabbes; du legst keine Tephilim an, du fastest nicht am Jom Kippur, du betrügst Wittwen und Waisen? Kann ein Mensch gegen dich aufstehen und dir das ins Gesicht sagen, und der Donner schlägt ihn nicht gleich in die Erd'? Ein Kind meiner Mutter ist von uns abgefallen, ist hingegangen und hat sich leider Gottes vergessen, sich und uns und ihre Väter im Grab; ich aber bin geblieben bei meiner Mutter und bei meinem Gott. Wo steckt da die Sünde? -- --

Für Fragen solcher Art giebt es keine Antwort; eine unruhige Seele giebt keinen festen Standpunkt, und der Wiederhall solcher Gedanken ist ein täuschendes Echo: es ruft uns gerade entgegengesetzte Laute und Antworten zurück, die wir nicht gefordert haben.

unbewachter Stunde sich anzueignen? Gab es ein schrecklicheres Leben als das seine?

Aber nicht immer hatte dieser finstere Geist der Unruhe Gewalt über ihn. Es gab Stunden, wo er, wenn der biblische Fluch sich ihm mit aller Schwere aufbürdete, plötzlich mit aller Entschiedenheit einer glaubensstarken Seele sich selber fragte: und paßt denn das Alles auch ganz so, wie es da geschrieben steht, auf dich? In der Thora ist die Red' nur von denen, die der Stimme des Herrn, ihres Gottes, nicht gehorchen, die nicht halten und befolgen alle seine Gebote und Rechte; über die kommen alle die Flüche. Wer aber kann von mir sagen: Josseph, du bist ein schlechter Jud, du fahrst und reitst am Schabbes; du legst keine Tephilim an, du fastest nicht am Jom Kippur, du betrügst Wittwen und Waisen? Kann ein Mensch gegen dich aufstehen und dir das ins Gesicht sagen, und der Donner schlägt ihn nicht gleich in die Erd'? Ein Kind meiner Mutter ist von uns abgefallen, ist hingegangen und hat sich leider Gottes vergessen, sich und uns und ihre Väter im Grab; ich aber bin geblieben bei meiner Mutter und bei meinem Gott. Wo steckt da die Sünde? — —

Für Fragen solcher Art giebt es keine Antwort; eine unruhige Seele giebt keinen festen Standpunkt, und der Wiederhall solcher Gedanken ist ein täuschendes Echo: es ruft uns gerade entgegengesetzte Laute und Antworten zurück, die wir nicht gefordert haben.

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[0102] unbewachter Stunde sich anzueignen? Gab es ein schrecklicheres Leben als das seine? Aber nicht immer hatte dieser finstere Geist der Unruhe Gewalt über ihn. Es gab Stunden, wo er, wenn der biblische Fluch sich ihm mit aller Schwere aufbürdete, plötzlich mit aller Entschiedenheit einer glaubensstarken Seele sich selber fragte: und paßt denn das Alles auch ganz so, wie es da geschrieben steht, auf dich? In der Thora ist die Red' nur von denen, die der Stimme des Herrn, ihres Gottes, nicht gehorchen, die nicht halten und befolgen alle seine Gebote und Rechte; über die kommen alle die Flüche. Wer aber kann von mir sagen: Josseph, du bist ein schlechter Jud, du fahrst und reitst am Schabbes; du legst keine Tephilim an, du fastest nicht am Jom Kippur, du betrügst Wittwen und Waisen? Kann ein Mensch gegen dich aufstehen und dir das ins Gesicht sagen, und der Donner schlägt ihn nicht gleich in die Erd'? Ein Kind meiner Mutter ist von uns abgefallen, ist hingegangen und hat sich leider Gottes vergessen, sich und uns und ihre Väter im Grab; ich aber bin geblieben bei meiner Mutter und bei meinem Gott. Wo steckt da die Sünde? — — Für Fragen solcher Art giebt es keine Antwort; eine unruhige Seele giebt keinen festen Standpunkt, und der Wiederhall solcher Gedanken ist ein täuschendes Echo: es ruft uns gerade entgegengesetzte Laute und Antworten zurück, die wir nicht gefordert haben.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

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Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/102>, abgerufen am 23.11.2024.