Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.der Magd noch immer nicht zurechtfinden; in ihrem alten Kopfe jagten sich die wunderlichsten Vorstellungen auf und ab und gönnten ihm keine Ruhe. So wachte sie in der Nacht eines der darauf folgenden Tage plötzlich auf und weckte Josseph mit der Frage, ob er nicht meine, daß Anezka deßhalb weggegangen sei, weil man ihr beim verflossenen Weihnachtsabend vielleicht weniger Zwetschgen und Nüsse gegeben habe, als im früheren Jahre? -- -- Auch auf Josseph hatte das unter so eigenthümlichen Umständen erfolgte Austreten der Magd aus einem zehnjährigen Verhältnisse einen fast erschütternden Eindruck hervorgebracht. Er ahnte es mehr, als daß es sich ihm mit aller Klarheit aufdrängte, daß Anezka's schleunige Dienstkündigung mit irgend einem Punkte seines Lebens in Berührung stand. War sie von Madlena wirklich dazu angestiftet worden? Hatte sie vom Pfarrer den Befehl erhalten? Welche Feinde lauerten noch in der Nähe und warfen aus ihren glühenden Augen spitzige Messer in sein ruheloses Gehirn? Warum kamen sie nicht? Warum ließen sie auf sich warten und marterten ihn durch den sengenden Athem der Ungewißheit, die wie ein heißer Wind vor dem Gewitter Staub aufwirbelte, während die Blitze erst am äußersten Rande des Horizontes zuckten? -- Der Sabbath war wieder gekommen; wie immer war Josseph auch diesmal in die Synagoge des benachbarten Ghetto gegangen. Beim Vorlesen des Wochen- der Magd noch immer nicht zurechtfinden; in ihrem alten Kopfe jagten sich die wunderlichsten Vorstellungen auf und ab und gönnten ihm keine Ruhe. So wachte sie in der Nacht eines der darauf folgenden Tage plötzlich auf und weckte Josseph mit der Frage, ob er nicht meine, daß Anezka deßhalb weggegangen sei, weil man ihr beim verflossenen Weihnachtsabend vielleicht weniger Zwetschgen und Nüsse gegeben habe, als im früheren Jahre? — — Auch auf Josseph hatte das unter so eigenthümlichen Umständen erfolgte Austreten der Magd aus einem zehnjährigen Verhältnisse einen fast erschütternden Eindruck hervorgebracht. Er ahnte es mehr, als daß es sich ihm mit aller Klarheit aufdrängte, daß Anezka's schleunige Dienstkündigung mit irgend einem Punkte seines Lebens in Berührung stand. War sie von Madlena wirklich dazu angestiftet worden? Hatte sie vom Pfarrer den Befehl erhalten? Welche Feinde lauerten noch in der Nähe und warfen aus ihren glühenden Augen spitzige Messer in sein ruheloses Gehirn? Warum kamen sie nicht? Warum ließen sie auf sich warten und marterten ihn durch den sengenden Athem der Ungewißheit, die wie ein heißer Wind vor dem Gewitter Staub aufwirbelte, während die Blitze erst am äußersten Rande des Horizontes zuckten? — Der Sabbath war wieder gekommen; wie immer war Josseph auch diesmal in die Synagoge des benachbarten Ghetto gegangen. Beim Vorlesen des Wochen- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="7"> <p><pb facs="#f0100"/> der Magd noch immer nicht zurechtfinden; in ihrem alten Kopfe jagten sich die wunderlichsten Vorstellungen auf und ab und gönnten ihm keine Ruhe. So wachte sie in der Nacht eines der darauf folgenden Tage plötzlich auf und weckte Josseph mit der Frage, ob er nicht meine, daß Anezka deßhalb weggegangen sei, weil man ihr beim verflossenen Weihnachtsabend vielleicht weniger Zwetschgen und Nüsse gegeben habe, als im früheren Jahre? — — Auch auf Josseph hatte das unter so eigenthümlichen Umständen erfolgte Austreten der Magd aus einem zehnjährigen Verhältnisse einen fast erschütternden Eindruck hervorgebracht. Er ahnte es mehr, als daß es sich ihm mit aller Klarheit aufdrängte, daß Anezka's schleunige Dienstkündigung mit irgend einem Punkte seines Lebens in Berührung stand. War sie von Madlena wirklich dazu angestiftet worden? Hatte sie vom Pfarrer den Befehl erhalten? Welche Feinde lauerten noch in der Nähe und warfen aus ihren glühenden Augen spitzige Messer in sein ruheloses Gehirn? Warum kamen sie nicht? Warum ließen sie auf sich warten und marterten ihn durch den sengenden Athem der Ungewißheit, die wie ein heißer Wind vor dem Gewitter Staub aufwirbelte, während die Blitze erst am äußersten Rande des Horizontes zuckten? —</p><lb/> <p>Der Sabbath war wieder gekommen; wie immer war Josseph auch diesmal in die Synagoge des benachbarten Ghetto gegangen. Beim Vorlesen des Wochen-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0100]
der Magd noch immer nicht zurechtfinden; in ihrem alten Kopfe jagten sich die wunderlichsten Vorstellungen auf und ab und gönnten ihm keine Ruhe. So wachte sie in der Nacht eines der darauf folgenden Tage plötzlich auf und weckte Josseph mit der Frage, ob er nicht meine, daß Anezka deßhalb weggegangen sei, weil man ihr beim verflossenen Weihnachtsabend vielleicht weniger Zwetschgen und Nüsse gegeben habe, als im früheren Jahre? — — Auch auf Josseph hatte das unter so eigenthümlichen Umständen erfolgte Austreten der Magd aus einem zehnjährigen Verhältnisse einen fast erschütternden Eindruck hervorgebracht. Er ahnte es mehr, als daß es sich ihm mit aller Klarheit aufdrängte, daß Anezka's schleunige Dienstkündigung mit irgend einem Punkte seines Lebens in Berührung stand. War sie von Madlena wirklich dazu angestiftet worden? Hatte sie vom Pfarrer den Befehl erhalten? Welche Feinde lauerten noch in der Nähe und warfen aus ihren glühenden Augen spitzige Messer in sein ruheloses Gehirn? Warum kamen sie nicht? Warum ließen sie auf sich warten und marterten ihn durch den sengenden Athem der Ungewißheit, die wie ein heißer Wind vor dem Gewitter Staub aufwirbelte, während die Blitze erst am äußersten Rande des Horizontes zuckten? —
Der Sabbath war wieder gekommen; wie immer war Josseph auch diesmal in die Synagoge des benachbarten Ghetto gegangen. Beim Vorlesen des Wochen-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/100 |
Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/100>, abgerufen am 20.07.2024. |