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Kölliker, Albert von: Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Thiere. Leipzig, 1861.

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Einunddreissigste Vorlesung.
Reissner "Schneckenkanal", Canalis cochlearis, nennt, auch noch
beim Erwachsenen sich findet. Was mich selbst anlangt, so habe
ich der Schnecke alle Aufmerksamkeit geschenkt und will ich Ihnen
nun nach meinen Erfahrungen, die innere Entwicklung derselben,
etwas ausführlicher schildern. Am einfachsten ist es von der in Fig.
154 wiedergegebenen Schnecke eines acht Wochen alten mensch-
lichen Embryo auszugehen. Hier zeigt das knorpelige Labyrinth in
der Gegend der Schnecke eine einfache Höhle, deren Innenwand
noch in keiner Weise die Gestalt des kaum mehr als Eine Windung
beschreibenden Schneckenkanales wiedergibt, sondern ohne alle
Vorsprünge ist. Erfüllt wird diese Höhle erstens von dem Epithe-
lialrohre des Schneckenkanales, das jetzt noch fast ganz rund und
im Verhältniss zur ganzen Schnecke auch sehr weit ist und an der
oberen Seite, wo später die Scala tympani liegt, eine viel grössere
Dicke besitzt, und zweitens von einer bindegewebigen Lage, die als
Umhüllung des Schneckenkanales und als Träger des Schnecken-
nerven erscheint, dessen grosses Ganglion schon in die Aushöhlung
der ersten Windung sich erstreckt. Eine solche Schnecke hat mithin
weder Treppen noch ein Spiralblatt, auch keinen knorpeligen Spi-
ralkanal. -- Fragen Sie nun, wie diese Schnecke aus der in der
Fig. 151 gezeichneten hervorgegangen ist, so ist die Antwort nicht
schwer. Vor Allem wollen Sie berücksichtigen, dass an der Säuge-
thierschnecke kurze Zeit nach ihrer Bildung der Nervus cochleae mit
einem grossen Ganglion, das ich Ganglion spirale nennen will, dicht
anliegt. Wenn nun der Schneckenkanal anfängt spiralig auszuwach-
sen, folgt das Ganglion demselben genau und zieht sich strangförmig
aus, und während diess geschieht, beginnt auch eine histologische
Differenzirung der anfangs gleichartigen und weichen Kapsel um die
Schnecke, so dass dieselbe in eine äussere festere Knorpellage und
eine innere weich bleibende bindegewebige Umhüllung des epithelia-
len Schneckenkanales und des Nervus cochleae sammt seinem Gang-
lion
sich scheidet, und dann ist der Zustand der, den die Fig. 154
darstellt.

Die Umwandlung der eben geschilderten einfachen Schnecke zu
den späteren Formen lässt sich kaum errathen und hat mir wenig-
stens dieser Fall von neuem sehr lebhaft gezeigt, wie schwer es ist,
den Entwicklungsgang eines Organes a priori zu construiren. Und
doch sind, wenn man die Natur einmal befragt hat, die Verhältnisse
so äusserst einfach und wird es Ihnen an der Hand der Fig. 155

Einunddreissigste Vorlesung.
Reissner «Schneckenkanal», Canalis cochlearis, nennt, auch noch
beim Erwachsenen sich findet. Was mich selbst anlangt, so habe
ich der Schnecke alle Aufmerksamkeit geschenkt und will ich Ihnen
nun nach meinen Erfahrungen, die innere Entwicklung derselben,
etwas ausführlicher schildern. Am einfachsten ist es von der in Fig.
154 wiedergegebenen Schnecke eines acht Wochen alten mensch-
lichen Embryo auszugehen. Hier zeigt das knorpelige Labyrinth in
der Gegend der Schnecke eine einfache Höhle, deren Innenwand
noch in keiner Weise die Gestalt des kaum mehr als Eine Windung
beschreibenden Schneckenkanales wiedergibt, sondern ohne alle
Vorsprünge ist. Erfüllt wird diese Höhle erstens von dem Epithe-
lialrohre des Schneckenkanales, das jetzt noch fast ganz rund und
im Verhältniss zur ganzen Schnecke auch sehr weit ist und an der
oberen Seite, wo später die Scala tympani liegt, eine viel grössere
Dicke besitzt, und zweitens von einer bindegewebigen Lage, die als
Umhüllung des Schneckenkanales und als Träger des Schnecken-
nerven erscheint, dessen grosses Ganglion schon in die Aushöhlung
der ersten Windung sich erstreckt. Eine solche Schnecke hat mithin
weder Treppen noch ein Spiralblatt, auch keinen knorpeligen Spi-
ralkanal. — Fragen Sie nun, wie diese Schnecke aus der in der
Fig. 151 gezeichneten hervorgegangen ist, so ist die Antwort nicht
schwer. Vor Allem wollen Sie berücksichtigen, dass an der Säuge-
thierschnecke kurze Zeit nach ihrer Bildung der Nervus cochleae mit
einem grossen Ganglion, das ich Ganglion spirale nennen will, dicht
anliegt. Wenn nun der Schneckenkanal anfängt spiralig auszuwach-
sen, folgt das Ganglion demselben genau und zieht sich strangförmig
aus, und während diess geschieht, beginnt auch eine histologische
Differenzirung der anfangs gleichartigen und weichen Kapsel um die
Schnecke, so dass dieselbe in eine äussere festere Knorpellage und
eine innere weich bleibende bindegewebige Umhüllung des epithelia-
len Schneckenkanales und des Nervus cochleae sammt seinem Gang-
lion
sich scheidet, und dann ist der Zustand der, den die Fig. 154
darstellt.

Die Umwandlung der eben geschilderten einfachen Schnecke zu
den späteren Formen lässt sich kaum errathen und hat mir wenig-
stens dieser Fall von neuem sehr lebhaft gezeigt, wie schwer es ist,
den Entwicklungsgang eines Organes a priori zu construiren. Und
doch sind, wenn man die Natur einmal befragt hat, die Verhältnisse
so äusserst einfach und wird es Ihnen an der Hand der Fig. 155

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[314/0330] Einunddreissigste Vorlesung. Reissner «Schneckenkanal», Canalis cochlearis, nennt, auch noch beim Erwachsenen sich findet. Was mich selbst anlangt, so habe ich der Schnecke alle Aufmerksamkeit geschenkt und will ich Ihnen nun nach meinen Erfahrungen, die innere Entwicklung derselben, etwas ausführlicher schildern. Am einfachsten ist es von der in Fig. 154 wiedergegebenen Schnecke eines acht Wochen alten mensch- lichen Embryo auszugehen. Hier zeigt das knorpelige Labyrinth in der Gegend der Schnecke eine einfache Höhle, deren Innenwand noch in keiner Weise die Gestalt des kaum mehr als Eine Windung beschreibenden Schneckenkanales wiedergibt, sondern ohne alle Vorsprünge ist. Erfüllt wird diese Höhle erstens von dem Epithe- lialrohre des Schneckenkanales, das jetzt noch fast ganz rund und im Verhältniss zur ganzen Schnecke auch sehr weit ist und an der oberen Seite, wo später die Scala tympani liegt, eine viel grössere Dicke besitzt, und zweitens von einer bindegewebigen Lage, die als Umhüllung des Schneckenkanales und als Träger des Schnecken- nerven erscheint, dessen grosses Ganglion schon in die Aushöhlung der ersten Windung sich erstreckt. Eine solche Schnecke hat mithin weder Treppen noch ein Spiralblatt, auch keinen knorpeligen Spi- ralkanal. — Fragen Sie nun, wie diese Schnecke aus der in der Fig. 151 gezeichneten hervorgegangen ist, so ist die Antwort nicht schwer. Vor Allem wollen Sie berücksichtigen, dass an der Säuge- thierschnecke kurze Zeit nach ihrer Bildung der Nervus cochleae mit einem grossen Ganglion, das ich Ganglion spirale nennen will, dicht anliegt. Wenn nun der Schneckenkanal anfängt spiralig auszuwach- sen, folgt das Ganglion demselben genau und zieht sich strangförmig aus, und während diess geschieht, beginnt auch eine histologische Differenzirung der anfangs gleichartigen und weichen Kapsel um die Schnecke, so dass dieselbe in eine äussere festere Knorpellage und eine innere weich bleibende bindegewebige Umhüllung des epithelia- len Schneckenkanales und des Nervus cochleae sammt seinem Gang- lion sich scheidet, und dann ist der Zustand der, den die Fig. 154 darstellt. Die Umwandlung der eben geschilderten einfachen Schnecke zu den späteren Formen lässt sich kaum errathen und hat mir wenig- stens dieser Fall von neuem sehr lebhaft gezeigt, wie schwer es ist, den Entwicklungsgang eines Organes a priori zu construiren. Und doch sind, wenn man die Natur einmal befragt hat, die Verhältnisse so äusserst einfach und wird es Ihnen an der Hand der Fig. 155

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Zitationshilfe: Kölliker, Albert von: Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Thiere. Leipzig, 1861, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/koelliker_entwicklungs_1861/330>, abgerufen am 28.11.2024.