Köhler, Ulrich: Gedächtnissrede auf Ernst Curtius. Berlin, 1897.Gedächtnissrede auf Ernst Curtius.
Gedächtnissreden. 1897. I. 2 Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius.
Gedächtniſsreden. 1897. I. 2 <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0011" n="11"/> <fw type="header" place="top"><lb/> Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius.</fw> <fw type="pageNum" place="top">9</fw> <p><lb/> Geschichte vielleicht eine nachhaltigere Wirkung ausgeübt, als selbst in<lb/> Deutschland.</p> <p><lb/> Seitdem Curtius zur Geschichtsschreibung übergegangen war, hat auch<lb/> das Problem der Geschichte als Wissenschaft seinen Geist beschäftigt. In<lb/> der akademischen Rede über Philosophie und Geschichte, gehalten am<lb/> Leibniz-Tage 1873, bezeichnet er es als die Aufgabe des Historikers, »das<lb/> fragmentarisch Überlieferte in seinem Zusammenhange und das Vollendete<lb/> in seinem Werden zu verstehen«; dazu gehört als Vorstufe »Quellenforschung<lb/> und Urkundensammlung«. Das Haupterforderniſs des Historikers ist Un-<lb/> befangenheit und Unparteilichkeit in den politischen und religiösen Fragen.<lb/> Die Anklänge an die Anschauungen Ranke’s sind unverkennbar. Gegen-<lb/> über der Tendenz, das geschichtliche Leben der Völker und Staaten aus<lb/> wirthschaftlichen und socialen Gesetzen zu erklären, will Curtius, in Über-<lb/> einstimmung mit seinem jüngeren Collegen und Freunde Heinrich von<lb/> Treitschke, der sittlichen Freiheit und Verantwortlichkeit in der Geschichte<lb/> ihr Recht gewahrt wissen, ohne deshalb das Anregende und Fruchtbrin-<lb/> gende jener Betrachtungsweise in Abrede zu stellen; an einer anderen Stelle<lb/> nennt er neben den sittlichen Mächten die Offenbarung eines göttlichen<lb/> Willens. Um die schädliche Einwirkung eines einseitigen Parteistandpunktes<lb/> auf die Geschichtsbetrachtung darzuthun, verweist er auf die Darstellungen<lb/> der griechischen Geschichte von Mitford und Grote; die Bedeutung des<lb/> Grote’schen Geschichtswerkes hat er trotz des principiellen Gegensatzes<lb/> jederzeit anerkannt, sowie ihm überhaupt nichts ferner lag, als die Lei-<lb/> stungen Anderer herabzusetzen, um sich selbst auf ein höheres Piedestal<lb/> zu stellen. Curtius war ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller; den groſsen<lb/> darstellenden Werken gingen zu jeder Zeit Abhandlungen und kleinere Auf-<lb/> sätze zur Seite, welche theils als Vorstudien zu jenen gedacht, theils durch<lb/> sie hervorgerufen sich allmählich auf fast alle, auch sehr entlegene Gebiete<lb/> des griechischen Alterthums erstreckten. In seinem Peloponnes hatte er<lb/> mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die Spuren alter Kunststraſsen auf der<lb/> Halbinsel hinzuweisen; daraus ist die berühmte Abhandlung »Zur Geschichte<lb/> des Wegebaus bei den Griechen« erwachsen, in welcher ein bis dahin<lb/> von Niemandem ins Auge gefaſster Gegenstand von ihm in bahnbrechen-<lb/> der und zugleich abschlieſsender Weise tractirt wurde. Und ähnlich in<lb/> anderen Fällen. Gemeinsam ist allen diesen Arbeiten die Beziehung auf<lb/> das Allgemeine im geschichtlichen Zusammenhange. Auch wo Curtius</p> <fw type="sig" place="bottom"><lb/> Gedächtniſsreden. 1897. I. 2</fw> </div> </body> </text> </TEI> [11/0011]
Gedächtniſsrede auf Ernst Curtius.
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Geschichte vielleicht eine nachhaltigere Wirkung ausgeübt, als selbst in
Deutschland.
Seitdem Curtius zur Geschichtsschreibung übergegangen war, hat auch
das Problem der Geschichte als Wissenschaft seinen Geist beschäftigt. In
der akademischen Rede über Philosophie und Geschichte, gehalten am
Leibniz-Tage 1873, bezeichnet er es als die Aufgabe des Historikers, »das
fragmentarisch Überlieferte in seinem Zusammenhange und das Vollendete
in seinem Werden zu verstehen«; dazu gehört als Vorstufe »Quellenforschung
und Urkundensammlung«. Das Haupterforderniſs des Historikers ist Un-
befangenheit und Unparteilichkeit in den politischen und religiösen Fragen.
Die Anklänge an die Anschauungen Ranke’s sind unverkennbar. Gegen-
über der Tendenz, das geschichtliche Leben der Völker und Staaten aus
wirthschaftlichen und socialen Gesetzen zu erklären, will Curtius, in Über-
einstimmung mit seinem jüngeren Collegen und Freunde Heinrich von
Treitschke, der sittlichen Freiheit und Verantwortlichkeit in der Geschichte
ihr Recht gewahrt wissen, ohne deshalb das Anregende und Fruchtbrin-
gende jener Betrachtungsweise in Abrede zu stellen; an einer anderen Stelle
nennt er neben den sittlichen Mächten die Offenbarung eines göttlichen
Willens. Um die schädliche Einwirkung eines einseitigen Parteistandpunktes
auf die Geschichtsbetrachtung darzuthun, verweist er auf die Darstellungen
der griechischen Geschichte von Mitford und Grote; die Bedeutung des
Grote’schen Geschichtswerkes hat er trotz des principiellen Gegensatzes
jederzeit anerkannt, sowie ihm überhaupt nichts ferner lag, als die Lei-
stungen Anderer herabzusetzen, um sich selbst auf ein höheres Piedestal
zu stellen. Curtius war ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller; den groſsen
darstellenden Werken gingen zu jeder Zeit Abhandlungen und kleinere Auf-
sätze zur Seite, welche theils als Vorstudien zu jenen gedacht, theils durch
sie hervorgerufen sich allmählich auf fast alle, auch sehr entlegene Gebiete
des griechischen Alterthums erstreckten. In seinem Peloponnes hatte er
mehrfach Gelegenheit gehabt, auf die Spuren alter Kunststraſsen auf der
Halbinsel hinzuweisen; daraus ist die berühmte Abhandlung »Zur Geschichte
des Wegebaus bei den Griechen« erwachsen, in welcher ein bis dahin
von Niemandem ins Auge gefaſster Gegenstand von ihm in bahnbrechen-
der und zugleich abschlieſsender Weise tractirt wurde. Und ähnlich in
anderen Fällen. Gemeinsam ist allen diesen Arbeiten die Beziehung auf
das Allgemeine im geschichtlichen Zusammenhange. Auch wo Curtius
Gedächtniſsreden. 1897. I. 2
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