Jch stieß einst bei einer Wallfart auf einen Greis, dem das wahre Bild des Elends auf der Stirne geprägt war. Tiefe Furchen hatte die Zeit der Jahre und der Kummer auf sein ver- grämtes Gesicht gegraben, das Fleisch hing an dünnen Fasern, und das hinschwankende Ge- rippe zitterte bei jeder Berührung, die Knie schlotterten, und die wunden Füsse versagten ihre Hülfe. -- Er strekte seine linke Knochenhand aus, und bat um ein Allmosen mit einer so ru- higen edlen Mine, daß er einem das Herz stal. Jch unterhalte mich gern mit solchen Brüdern des Elends, lerne aus ihrer Geschichte, wie leicht der Mensch fallen, und wie sehr der, welcher noch steht, Ursache habe, vor seinem Fall zu zittern.
Jhr habt wohl schon viel Elend erduldet, Alter! (war meine erste Frage).
Greis. O ja Herr! das Elend hat mich von Jugend an aufgesucht, und wird mich bis ins
Grab
B) Schoͤne Seele, unterm Gewande des Bettlers.
Jch ſtieß einſt bei einer Wallfart auf einen Greis, dem das wahre Bild des Elends auf der Stirne gepraͤgt war. Tiefe Furchen hatte die Zeit der Jahre und der Kummer auf ſein ver- graͤmtes Geſicht gegraben, das Fleiſch hing an duͤnnen Faſern, und das hinſchwankende Ge- rippe zitterte bei jeder Beruͤhrung, die Knie ſchlotterten, und die wunden Fuͤſſe verſagten ihre Huͤlfe. — Er ſtrekte ſeine linke Knochenhand aus, und bat um ein Allmoſen mit einer ſo ru- higen edlen Mine, daß er einem das Herz ſtal. Jch unterhalte mich gern mit ſolchen Bruͤdern des Elends, lerne aus ihrer Geſchichte, wie leicht der Menſch fallen, und wie ſehr der, welcher noch ſteht, Urſache habe, vor ſeinem Fall zu zittern.
Jhr habt wohl ſchon viel Elend erduldet, Alter! (war meine erſte Frage).
Greis. O ja Herr! das Elend hat mich von Jugend an aufgeſucht, und wird mich bis ins
Grab
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B) Schoͤne Seele, unterm Gewande des
Bettlers.
Jch ſtieß einſt bei einer Wallfart auf einen
Greis, dem das wahre Bild des Elends auf der
Stirne gepraͤgt war. Tiefe Furchen hatte die
Zeit der Jahre und der Kummer auf ſein ver-
graͤmtes Geſicht gegraben, das Fleiſch hing an
duͤnnen Faſern, und das hinſchwankende Ge-
rippe zitterte bei jeder Beruͤhrung, die Knie
ſchlotterten, und die wunden Fuͤſſe verſagten ihre
Huͤlfe. — Er ſtrekte ſeine linke Knochenhand
aus, und bat um ein Allmoſen mit einer ſo ru-
higen edlen Mine, daß er einem das Herz ſtal.
Jch unterhalte mich gern mit ſolchen Bruͤdern
des Elends, lerne aus ihrer Geſchichte, wie leicht
der Menſch fallen, und wie ſehr der, welcher
noch ſteht, Urſache habe, vor ſeinem Fall zu
zittern.
Jhr habt wohl ſchon viel Elend erduldet,
Alter! (war meine erſte Frage).
Greis. O ja Herr! das Elend hat mich von
Jugend an aufgeſucht, und wird mich bis ins
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/280>, abgerufen am 03.03.2025.
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