mer zu borgen. O süsse, reizende Unschuld! dich hat der Luxus und die Mode aus Städten vertrieben -- da schnizzen sie sich Bilder, ver- brämen sie mit Flitterstaat, und fallen vor ihnen nieder -- Du wendest dein Angesicht weg, und eutweichest zu den Bewonern der Hütten -- da lebst du, und verbreitest Segen die Fülle, und liebliches Wesen immer und ewiglich.
Auch Marie wuchs, von dir geleitet, zu einem liebevollen Wesen, um einst ein anderes Wesen zu beglükken -- aber ein unbeugsames Fatum hatte es anders beschlossen. Jhr Vater schritt zur zwoten Ehe, mit einer Person, die von schlechter Herkunft, und von noch schlechtern Sitten war. Was Wunder? daß die folgsame Marie als Magd behandelt, und täglich gemis- handelt ward. Der Vater sah dis, aber er hatte zu wenig Herrschaft, daß er es hindern konnte: also sah sich das arme Mädchen den härtesten Ar- beiten ausgesezt, die immer mit Mishandlungen begleitet waren. Lange konte sie eine solche Be- handlung nicht ertragen, und da sie eine nahe Verwandtinn in B -- -- hatte, so faßte sie den Entschluß, ihr väterliches Haus zu verlassen, und sich selbiger in die Arme zu werfen. Eines
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mer zu borgen. O ſuͤſſe, reizende Unſchuld! dich hat der Luxus und die Mode aus Staͤdten vertrieben — da ſchnizzen ſie ſich Bilder, ver- braͤmen ſie mit Flitterſtaat, und fallen vor ihnen nieder — Du wendeſt dein Angeſicht weg, und eutweicheſt zu den Bewonern der Huͤtten — da lebſt du, und verbreiteſt Segen die Fuͤlle, und liebliches Weſen immer und ewiglich.
Auch Marie wuchs, von dir geleitet, zu einem liebevollen Weſen, um einſt ein anderes Weſen zu begluͤkken — aber ein unbeugſames Fatum hatte es anders beſchloſſen. Jhr Vater ſchritt zur zwoten Ehe, mit einer Perſon, die von ſchlechter Herkunft, und von noch ſchlechtern Sitten war. Was Wunder? daß die folgſame Marie als Magd behandelt, und taͤglich gemis- handelt ward. Der Vater ſah dis, aber er hatte zu wenig Herrſchaft, daß er es hindern konnte: alſo ſah ſich das arme Maͤdchen den haͤrteſten Ar- beiten ausgeſezt, die immer mit Mishandlungen begleitet waren. Lange konte ſie eine ſolche Be- handlung nicht ertragen, und da ſie eine nahe Verwandtinn in B — — hatte, ſo faßte ſie den Entſchluß, ihr vaͤterliches Haus zu verlaſſen, und ſich ſelbiger in die Arme zu werfen. Eines
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mer zu borgen. O ſuͤſſe, reizende Unſchuld!
dich hat der Luxus und die Mode aus Staͤdten
vertrieben — da ſchnizzen ſie ſich Bilder, ver-
braͤmen ſie mit Flitterſtaat, und fallen vor ihnen
nieder — Du wendeſt dein Angeſicht weg, und
eutweicheſt zu den Bewonern der Huͤtten — da
lebſt du, und verbreiteſt Segen die Fuͤlle, und
liebliches Weſen immer und ewiglich.
Auch Marie wuchs, von dir geleitet, zu einem
liebevollen Weſen, um einſt ein anderes Weſen
zu begluͤkken — aber ein unbeugſames Fatum
hatte es anders beſchloſſen. Jhr Vater ſchritt
zur zwoten Ehe, mit einer Perſon, die von
ſchlechter Herkunft, und von noch ſchlechtern
Sitten war. Was Wunder? daß die folgſame
Marie als Magd behandelt, und taͤglich gemis-
handelt ward. Der Vater ſah dis, aber er hatte
zu wenig Herrſchaft, daß er es hindern konnte:
alſo ſah ſich das arme Maͤdchen den haͤrteſten Ar-
beiten ausgeſezt, die immer mit Mishandlungen
begleitet waren. Lange konte ſie eine ſolche Be-
handlung nicht ertragen, und da ſie eine nahe
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/225>, abgerufen am 23.11.2024.
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