ser? wo ist Regen? es zu erstikken, wo Saiten- spiel und Gesang, das kochende Blut zur Ruhe zu lullen?
Denke dir einen fühlenden Jüngling! Er, der bisher blos an kindliche Liebe gewöhnt, nur Bruderliebe und Freundesliebe empfunden, fühlt ein stilles Sehnen in seiner Brust aufkeimen, für das seine Fantasie keinen Namen weiß. Jn stiller Einsamkeit erzogen, an der Hand der Na- tur geleitet, fühlt er blos Liebe für sie, die so viel Freuden für ihn schaft, Blumen auf sein Lager streut, und ihn im Duft ihrer Würze hüllt. Auf einmal erwacht bei ihm der Trieb der Na- tur, ein noch nie gefühlter Trieb nach Teil- nehmung, jezt sieht er alles um sich her verändert, er hört das Lokken der Amsel, das Girren der schüchternen Taube, die sich ängstlich nach ihren Gatten sehnt, er vernimmt die schmelzenden Trauertöne, womit der kleine Vogel der Liebe um den Verlust seines Gatten klagt, den er ins Garn gelokket; er wird gerührt, und so sehr er den Sprosser liebt, so giebt er ihn doch der Freiheit, und mit ihr seiner klagenden Gattin wieder -- er flattert froh aus seiner Hand, und eilt ins dunkle Gebüsch; der wehmütige Laut erstirbt -- die
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ſer? wo iſt Regen? es zu erſtikken, wo Saiten- ſpiel und Geſang, das kochende Blut zur Ruhe zu lullen?
Denke dir einen fuͤhlenden Juͤngling! Er, der bisher blos an kindliche Liebe gewoͤhnt, nur Bruderliebe und Freundesliebe empfunden, fuͤhlt ein ſtilles Sehnen in ſeiner Bruſt aufkeimen, fuͤr das ſeine Fantaſie keinen Namen weiß. Jn ſtiller Einſamkeit erzogen, an der Hand der Na- tur geleitet, fuͤhlt er blos Liebe fuͤr ſie, die ſo viel Freuden fuͤr ihn ſchaft, Blumen auf ſein Lager ſtreut, und ihn im Duft ihrer Wuͤrze huͤllt. Auf einmal erwacht bei ihm der Trieb der Na- tur, ein noch nie gefuͤhlter Trieb nach Teil- nehmung, jezt ſieht er alles um ſich her veraͤndert, er hoͤrt das Lokken der Amſel, das Girren der ſchuͤchternen Taube, die ſich aͤngſtlich nach ihren Gatten ſehnt, er vernimmt die ſchmelzenden Trauertoͤne, womit der kleine Vogel der Liebe um den Verluſt ſeines Gatten klagt, den er ins Garn gelokket; er wird geruͤhrt, und ſo ſehr er den Sproſſer liebt, ſo giebt er ihn doch der Freiheit, und mit ihr ſeiner klagenden Gattin wieder — er flattert froh aus ſeiner Hand, und eilt ins dunkle Gebuͤſch; der wehmuͤtige Laut erſtirbt — die
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ſer? wo iſt Regen? es zu erſtikken, wo Saiten-
ſpiel und Geſang, das kochende Blut zur Ruhe
zu lullen?
Denke dir einen fuͤhlenden Juͤngling!
Er, der bisher blos an kindliche Liebe gewoͤhnt,
nur Bruderliebe und Freundesliebe empfunden,
fuͤhlt ein ſtilles Sehnen in ſeiner Bruſt aufkeimen,
fuͤr das ſeine Fantaſie keinen Namen weiß. Jn
ſtiller Einſamkeit erzogen, an der Hand der Na-
tur geleitet, fuͤhlt er blos Liebe fuͤr ſie, die ſo viel
Freuden fuͤr ihn ſchaft, Blumen auf ſein Lager
ſtreut, und ihn im Duft ihrer Wuͤrze huͤllt.
Auf einmal erwacht bei ihm der Trieb der Na-
tur, ein noch nie gefuͤhlter Trieb nach Teil-
nehmung, jezt ſieht er alles um ſich her veraͤndert,
er hoͤrt das Lokken der Amſel, das Girren der
ſchuͤchternen Taube, die ſich aͤngſtlich nach ihren
Gatten ſehnt, er vernimmt die ſchmelzenden
Trauertoͤne, womit der kleine Vogel der Liebe
um den Verluſt ſeines Gatten klagt, den er ins
Garn gelokket; er wird geruͤhrt, und ſo ſehr er den
Sproſſer liebt, ſo giebt er ihn doch der Freiheit,
und mit ihr ſeiner klagenden Gattin wieder — er
flattert froh aus ſeiner Hand, und eilt ins dunkle
Gebuͤſch; der wehmuͤtige Laut erſtirbt — die
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Knüppeln, Julius Friedrich: Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Berlin, 1784, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knueppeln_rechte_1784/205>, abgerufen am 23.11.2024.
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