eine Kettenreyhe von Vergehungen eingeflochten, das Gefühl für die Tugend erstickt, oder die Fertigkeit schlecht zu handeln erlangt, oder alle Zuversicht zu Gott, Menschen und sich selbst und den Muth verlohren haben, den bessern Weg wieder zu suchen, oder die wenigstens im Begriffe stehen, so tief zu fallen. Sie sind, sage ich, am mehrsten zu bedauern, denn sie entbehren den einzigen Trost, der uns in den schwersten Leiden aufrichten kann, das Bewusst¬ seyn nicht muthwilligerweise sich das Schicksal zugezogen zu haben. Diese Unglücklichen ver¬ dienen aber nicht nur unser Mitleiden, nein! auch unsre brüderliche Nachsicht, unsre Zurecht¬ weisung und, wenn es noch Zeit ist, unsern Bey¬ stand. Wenn man immer weise, duldend und unpartheyisch genug wäre, zu überlegen, wie leicht das schwache menschliche Herz irre zu lei¬ ten ist; wie unwiederstehlich, bey heftigen Lei¬ denschaften, warmen Blute und verführerischen Gelegenheiten, manche Reizungen scheinen; wie blendend, anlockend und bezaubernd die Aussen¬ seiten mancher Laster sind; wie diese zuweilen sogar den Mantel der Philosophie umzuhängen, und durch sophistische Gründe die innere Stimme
der
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eine Kettenreyhe von Vergehungen eingeflochten, das Gefuͤhl fuͤr die Tugend erſtickt, oder die Fertigkeit ſchlecht zu handeln erlangt, oder alle Zuverſicht zu Gott, Menſchen und ſich ſelbſt und den Muth verlohren haben, den beſſern Weg wieder zu ſuchen, oder die wenigſtens im Begriffe ſtehen, ſo tief zu fallen. Sie ſind, ſage ich, am mehrſten zu bedauern, denn ſie entbehren den einzigen Troſt, der uns in den ſchwerſten Leiden aufrichten kann, das Bewuſſt¬ ſeyn nicht muthwilligerweiſe ſich das Schickſal zugezogen zu haben. Dieſe Ungluͤcklichen ver¬ dienen aber nicht nur unſer Mitleiden, nein! auch unſre bruͤderliche Nachſicht, unſre Zurecht¬ weiſung und, wenn es noch Zeit iſt, unſern Bey¬ ſtand. Wenn man immer weiſe, duldend und unpartheyiſch genug waͤre, zu uͤberlegen, wie leicht das ſchwache menſchliche Herz irre zu lei¬ ten iſt; wie unwiederſtehlich, bey heftigen Lei¬ denſchaften, warmen Blute und verfuͤhreriſchen Gelegenheiten, manche Reizungen ſcheinen; wie blendend, anlockend und bezaubernd die Auſſen¬ ſeiten mancher Laſter ſind; wie dieſe zuweilen ſogar den Mantel der Philoſophie umzuhaͤngen, und durch ſophiſtiſche Gruͤnde die innere Stimme
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eine Kettenreyhe von Vergehungen eingeflochten,
das Gefuͤhl fuͤr die Tugend erſtickt, oder die
Fertigkeit ſchlecht zu handeln erlangt, oder alle
Zuverſicht zu Gott, Menſchen und ſich ſelbſt
und den Muth verlohren haben, den beſſern
Weg wieder zu ſuchen, oder die wenigſtens im
Begriffe ſtehen, ſo tief zu fallen. Sie ſind,
ſage ich, am mehrſten zu bedauern, denn ſie
entbehren den einzigen Troſt, der uns in den
ſchwerſten Leiden aufrichten kann, das Bewuſſt¬
ſeyn nicht muthwilligerweiſe ſich das Schickſal
zugezogen zu haben. Dieſe Ungluͤcklichen ver¬
dienen aber nicht nur unſer Mitleiden, nein!
auch unſre bruͤderliche Nachſicht, unſre Zurecht¬
weiſung und, wenn es noch Zeit iſt, unſern Bey¬
ſtand. Wenn man immer weiſe, duldend und
unpartheyiſch genug waͤre, zu uͤberlegen, wie
leicht das ſchwache menſchliche Herz irre zu lei¬
ten iſt; wie unwiederſtehlich, bey heftigen Lei¬
denſchaften, warmen Blute und verfuͤhreriſchen
Gelegenheiten, manche Reizungen ſcheinen; wie
blendend, anlockend und bezaubernd die Auſſen¬
ſeiten mancher Laſter ſind; wie dieſe zuweilen
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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 2. Hannover, 1788, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang02_1788/217>, abgerufen am 24.11.2024.
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