Kein Grundsatz scheint mir unfeiner, und eines gefühlvollen Herzens unwürdiger, als der: "daß es ein Trost sey, Gefährten oder "Mitleidende im Unglücke zu haben." Ist es nicht genug, selbst leiden, und dabey überzeugt seyn zu müssen, daß in der Welt noch viel eben so redlich gute Menschen, wie wir sind, nicht weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir noch die Summe dieser Unglücklichen muthwil¬ ligerweise dadurch vermehren, daß wir Andre zwingen, auch unsre Last mitzutragen, die da¬ durch um nichts leichter wird? Denn man sage doch nicht, daß es Erleichterung sey, sich von seinem Schmerze zu unterhalten! Nur für ei¬ nige alte Weiber, nicht aber für einen verstän¬ digen Mann, kann Geschwätzigkeit von der Art Wohlthat werden. Ich habe im zweyten Abschnitte des ersten Capittels im Allgemeinen davon geredet: ob es gut sey, Andern seine Widerwärtigkeiten zu klagen. Damals sagte ich zu Beantwortung dieser Frage nur das, was Weltklugheit und Vorsichtigkeit lehren; Im Umgange mit Freunden hingegen, wovon hier die Rede ist, muß uns auch Feinheit des Ge¬
fühls
Q 2
8.
Kein Grundſatz ſcheint mir unfeiner, und eines gefuͤhlvollen Herzens unwuͤrdiger, als der: „daß es ein Troſt ſey, Gefaͤhrten oder „Mitleidende im Ungluͤcke zu haben.“ Iſt es nicht genug, ſelbſt leiden, und dabey uͤberzeugt ſeyn zu muͤſſen, daß in der Welt noch viel eben ſo redlich gute Menſchen, wie wir ſind, nicht weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir noch die Summe dieſer Ungluͤcklichen muthwil¬ ligerweiſe dadurch vermehren, daß wir Andre zwingen, auch unſre Laſt mitzutragen, die da¬ durch um nichts leichter wird? Denn man ſage doch nicht, daß es Erleichterung ſey, ſich von ſeinem Schmerze zu unterhalten! Nur fuͤr ei¬ nige alte Weiber, nicht aber fuͤr einen verſtaͤn¬ digen Mann, kann Geſchwaͤtzigkeit von der Art Wohlthat werden. Ich habe im zweyten Abſchnitte des erſten Capittels im Allgemeinen davon geredet: ob es gut ſey, Andern ſeine Widerwaͤrtigkeiten zu klagen. Damals ſagte ich zu Beantwortung dieſer Frage nur das, was Weltklugheit und Vorſichtigkeit lehren; Im Umgange mit Freunden hingegen, wovon hier die Rede iſt, muß uns auch Feinheit des Ge¬
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8.
Kein Grundſatz ſcheint mir unfeiner, und
eines gefuͤhlvollen Herzens unwuͤrdiger, als
der: „daß es ein Troſt ſey, Gefaͤhrten oder
„Mitleidende im Ungluͤcke zu haben.“ Iſt es
nicht genug, ſelbſt leiden, und dabey uͤberzeugt
ſeyn zu muͤſſen, daß in der Welt noch viel eben
ſo redlich gute Menſchen, wie wir ſind, nicht
weniger Elend zu tragen haben? Sollen wir
noch die Summe dieſer Ungluͤcklichen muthwil¬
ligerweiſe dadurch vermehren, daß wir Andre
zwingen, auch unſre Laſt mitzutragen, die da¬
durch um nichts leichter wird? Denn man ſage
doch nicht, daß es Erleichterung ſey, ſich von
ſeinem Schmerze zu unterhalten! Nur fuͤr ei¬
nige alte Weiber, nicht aber fuͤr einen verſtaͤn¬
digen Mann, kann Geſchwaͤtzigkeit von der
Art Wohlthat werden. Ich habe im zweyten
Abſchnitte des erſten Capittels im Allgemeinen
davon geredet: ob es gut ſey, Andern ſeine
Widerwaͤrtigkeiten zu klagen. Damals ſagte
ich zu Beantwortung dieſer Frage nur das, was
Weltklugheit und Vorſichtigkeit lehren; Im
Umgange mit Freunden hingegen, wovon hier
die Rede iſt, muß uns auch Feinheit des Ge¬
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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang01_1788/273>, abgerufen am 21.12.2024.
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