Ich höre so oft darüber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz, Beystand und Anhänglichkeit finde, als bey seinen näch¬ sten Blutsfreunden; allein ich halte diese Klage größtentheils für ungerecht. Freylich giebt es unter Verwandten eben so wohl unfreund¬ schaftliche Menschen, als unter Solchen, die uns nichts angehn; ich denke aber, man for¬ dert auch oft von seinen Herrn Oheimen und Frauen Baasen mehr, als man billiger Weise verlangen sollte. Unsre politischen Verfassun¬ gen und der täglich mehr überhand nehmende Luxus machen es wahrlich nothwendig, daß Jeder für sein Haus, für Weib und Kinder sorge, und die Herrn Vettern, die oft, als unwissende und verschwenderische Tagediebe, in der sichern Zuversicht, von ihren mächtigen und reichen Verwandten nicht verlassen zu werden, sorglos in die Welt hinein leben, ha¬ ben dann so unersättliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und Gewissen kein Spielwerk sind, diese ohnmöglich befriedigen kann, ohne ungerecht gegen Andre zu han¬ deln. Um nun diesen unangenehmen Collisio¬
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Ich hoͤre ſo oft daruͤber klagen, daß man unter fremden Leuten mehr Schutz, Beyſtand und Anhaͤnglichkeit finde, als bey ſeinen naͤch¬ ſten Blutsfreunden; allein ich halte dieſe Klage groͤßtentheils fuͤr ungerecht. Freylich giebt es unter Verwandten eben ſo wohl unfreund¬ ſchaftliche Menſchen, als unter Solchen, die uns nichts angehn; ich denke aber, man for¬ dert auch oft von ſeinen Herrn Oheimen und Frauen Baaſen mehr, als man billiger Weiſe verlangen ſollte. Unſre politiſchen Verfaſſun¬ gen und der taͤglich mehr uͤberhand nehmende Luxus machen es wahrlich nothwendig, daß Jeder fuͤr ſein Haus, fuͤr Weib und Kinder ſorge, und die Herrn Vettern, die oft, als unwiſſende und verſchwenderiſche Tagediebe, in der ſichern Zuverſicht, von ihren maͤchtigen und reichen Verwandten nicht verlaſſen zu werden, ſorglos in die Welt hinein leben, ha¬ ben dann ſo unerſaͤttliche Forderungen, daß der Mann, dem Pflicht und Gewiſſen kein Spielwerk ſind, dieſe ohnmoͤglich befriedigen kann, ohne ungerecht gegen Andre zu han¬ deln. Um nun dieſen unangenehmen Colliſio¬
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4.
Ich hoͤre ſo oft daruͤber klagen, daß man
unter fremden Leuten mehr Schutz, Beyſtand
und Anhaͤnglichkeit finde, als bey ſeinen naͤch¬
ſten Blutsfreunden; allein ich halte dieſe Klage
groͤßtentheils fuͤr ungerecht. Freylich giebt es
unter Verwandten eben ſo wohl unfreund¬
ſchaftliche Menſchen, als unter Solchen, die
uns nichts angehn; ich denke aber, man for¬
dert auch oft von ſeinen Herrn Oheimen und
Frauen Baaſen mehr, als man billiger Weiſe
verlangen ſollte. Unſre politiſchen Verfaſſun¬
gen und der taͤglich mehr uͤberhand nehmende
Luxus machen es wahrlich nothwendig, daß
Jeder fuͤr ſein Haus, fuͤr Weib und Kinder
ſorge, und die Herrn Vettern, die oft, als
unwiſſende und verſchwenderiſche Tagediebe,
in der ſichern Zuverſicht, von ihren maͤchtigen
und reichen Verwandten nicht verlaſſen zu
werden, ſorglos in die Welt hinein leben, ha¬
ben dann ſo unerſaͤttliche Forderungen, daß
der Mann, dem Pflicht und Gewiſſen kein
Spielwerk ſind, dieſe ohnmoͤglich befriedigen
kann, ohne ungerecht gegen Andre zu han¬
deln. Um nun dieſen unangenehmen Colliſio¬
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Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 1. Hannover, 1788, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/knigge_umgang01_1788/140>, abgerufen am 21.12.2024.
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