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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Ein Heldengedicht. Halle, 1749.

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Dritter Gesang.

Simon Petrus, du wirst ihn doch nicht unedel verken-
nen.

Selia hört ihn. Den Seraph durchdrang ein zärtlicher
Kummer.

Nein, so sagt er zu ihm, nein, theurer Orion, er wird
nicht

Seinen getreusten unsterblichen Freund | unedel verleug-
nen!

Schau ihn nur an, welch redliches Herz dies Angesicht
ausdrückt!

Aber, wer ist jener, der dort auf männlicher Stirne
Feuer zur Tugend, und zürnenden Haß der Laster ver-
breitet,

Unerbittlich den sclavischen Sündern, die GOtt verken-
nen?

Jst er nicht Simons Vertrauter? O wie er sich um ihn
beschäfftigt!

Wär er sein Bruder, so könnt er ihm nicht vertrauter be-
gegnen!
Sipha, sein Engel, nahm itzo das Wort: Du irrest
nicht, Seraph,

Dieser ist Simons Bruder, Andreas. Sie wuchsen zu-
gleich auf,

Und Orion, und ich, wir erzogen der Jünglinge Seelen
Neben einander mit Sorgsamkeit auf. Oft hab ich ihn
damals,

Wenn mit Zärtlichkeit beyde die brünstige Mutter um-
armte

Unvermerkt zu jener vollkommnern Liebe gebildet,
Die
G 5

Dritter Geſang.

Simon Petrus, du wirſt ihn doch nicht unedel verken-
nen.

Selia hoͤrt ihn. Den Seraph durchdrang ein zaͤrtlicher
Kummer.

Nein, ſo ſagt er zu ihm, nein, theurer Orion, er wird
nicht

Seinen getreuſten unſterblichen Freund | unedel verleug-
nen!

Schau ihn nur an, welch redliches Herz dies Angeſicht
ausdruͤckt!

Aber, wer iſt jener, der dort auf maͤnnlicher Stirne
Feuer zur Tugend, und zuͤrnenden Haß der Laſter ver-
breitet,

Unerbittlich den ſclaviſchen Suͤndern, die GOtt verken-
nen?

Jſt er nicht Simons Vertrauter? O wie er ſich um ihn
beſchaͤfftigt!

Waͤr er ſein Bruder, ſo koͤnnt er ihm nicht vertrauter be-
gegnen!
Sipha, ſein Engel, nahm itzo das Wort: Du irreſt
nicht, Seraph,

Dieſer iſt Simons Bruder, Andreas. Sie wuchſen zu-
gleich auf,

Und Orion, und ich, wir erzogen der Juͤnglinge Seelen
Neben einander mit Sorgſamkeit auf. Oft hab ich ihn
damals,

Wenn mit Zaͤrtlichkeit beyde die bruͤnſtige Mutter um-
armte

Unvermerkt zu jener vollkommnern Liebe gebildet,
Die
G 5
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[105/0109] Dritter Geſang. Simon Petrus, du wirſt ihn doch nicht unedel verken- nen. Selia hoͤrt ihn. Den Seraph durchdrang ein zaͤrtlicher Kummer. Nein, ſo ſagt er zu ihm, nein, theurer Orion, er wird nicht Seinen getreuſten unſterblichen Freund | unedel verleug- nen! Schau ihn nur an, welch redliches Herz dies Angeſicht ausdruͤckt! Aber, wer iſt jener, der dort auf maͤnnlicher Stirne Feuer zur Tugend, und zuͤrnenden Haß der Laſter ver- breitet, Unerbittlich den ſclaviſchen Suͤndern, die GOtt verken- nen? Jſt er nicht Simons Vertrauter? O wie er ſich um ihn beſchaͤfftigt! Waͤr er ſein Bruder, ſo koͤnnt er ihm nicht vertrauter be- gegnen! Sipha, ſein Engel, nahm itzo das Wort: Du irreſt nicht, Seraph, Dieſer iſt Simons Bruder, Andreas. Sie wuchſen zu- gleich auf, Und Orion, und ich, wir erzogen der Juͤnglinge Seelen Neben einander mit Sorgſamkeit auf. Oft hab ich ihn damals, Wenn mit Zaͤrtlichkeit beyde die bruͤnſtige Mutter um- armte Unvermerkt zu jener vollkommnern Liebe gebildet, Die G 5

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Zitationshilfe: Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Ein Heldengedicht. Halle, 1749, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias_1749/109>, abgerufen am 23.11.2024.