[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 4. Halle, 1773.Der Messias. Selbst ihr letztes' Jammergeschrey vermochte die zarteZitternde Nerve bey euch nicht zu rühren, die andern, beym Anblick Einer bittenden Thräne, die ganze Seele bewegte? Zwar ich fodre von euch nicht, durch süßen heiligen Schauer, Bey der Erblickung der leidenden Unschuld, erschüttert zu werden; (Litte die Unschuld noch; so wär der diesen Gerechten Eine Seligkeit mehr!) doch fordr' ich Spuren der Menschheit, Schwache Dämmerung doch von einer unsterblichen Seele! Ach kein Mitleid! Jhr konntet den Wurm auf der Erde nicht anschaun, Ohne den Schöpfer voll Huld in des Wurmes Freude zu sehen! Euer Auge konntet ihr nie gen Himmel erheben, Ohne den großen Erbarmer zu sehn! Jhr habt es gen Himmel Niemals erhoben! Nie habt ihr geweint! Jhr habet euch niemals Eines Menschen erbarmet! So hört denn die Rache, die säumte; Und nun eilet: Der Richter der Welt erbarmet sich auch nicht! Elim sprach noch, als sich auf dem Throne der Richtende wandte: Sieh, er wandt' auf Einmal sein schreckentragendes Auge Gegen einen der Todesengel. Wie kann ich sein Umschaun, Wie aussprechen den Zorn, der ihm vom Angesicht ausgieng, Und die Stimme, mit der er rief! So gebot er dem Seraph: Steig herunter, und rühre sie an; geuß träumende Schrecken Ueber sie aus, daß vor ihrem erschütterten Geiste vorbeygeh' Jhrer nahenden Quaal Anschaun, und Vergeltung beginne! Also sprach der Richter Entsetzen. Gleich dem Gedanken Eilte der Todesengel; goß aus vor der Schaar der Verfolger Eine Mitternacht; naht' ihnen; sein donnernder Ruf war: Folgt, und seht! gieng eilend voran; sah nach den Verfolgern Drohend
Der Meſſias. Selbſt ihr letztes’ Jammergeſchrey vermochte die zarteZitternde Nerve bey euch nicht zu ruͤhren, die andern, beym Anblick Einer bittenden Thraͤne, die ganze Seele bewegte? Zwar ich fodre von euch nicht, durch ſuͤßen heiligen Schauer, Bey der Erblickung der leidenden Unſchuld, erſchuͤttert zu werden; (Litte die Unſchuld noch; ſo waͤr der dieſen Gerechten Eine Seligkeit mehr!) doch fordr’ ich Spuren der Menſchheit, Schwache Daͤmmerung doch von einer unſterblichen Seele! Ach kein Mitleid! Jhr konntet den Wurm auf der Erde nicht anſchaun, Ohne den Schoͤpfer voll Huld in des Wurmes Freude zu ſehen! Euer Auge konntet ihr nie gen Himmel erheben, Ohne den großen Erbarmer zu ſehn! Jhr habt es gen Himmel Niemals erhoben! Nie habt ihr geweint! Jhr habet euch niemals Eines Menſchen erbarmet! So hoͤrt denn die Rache, die ſaͤumte; Und nun eilet: Der Richter der Welt erbarmet ſich auch nicht! Elim ſprach noch, als ſich auf dem Throne der Richtende wandte: Sieh, er wandt’ auf Einmal ſein ſchreckentragendes Auge Gegen einen der Todesengel. Wie kann ich ſein Umſchaun, Wie ausſprechen den Zorn, der ihm vom Angeſicht ausgieng, Und die Stimme, mit der er rief! So gebot er dem Seraph: Steig herunter, und ruͤhre ſie an; geuß traͤumende Schrecken Ueber ſie aus, daß vor ihrem erſchuͤtterten Geiſte vorbeygeh’ Jhrer nahenden Quaal Anſchaun, und Vergeltung beginne! Alſo ſprach der Richter Entſetzen. Gleich dem Gedanken Eilte der Todesengel; goß aus vor der Schaar der Verfolger Eine Mitternacht; naht’ ihnen; ſein donnernder Ruf war: Folgt, und ſeht! gieng eilend voran; ſah nach den Verfolgern Drohend
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="11"> <pb facs="#f0090" n="90"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Der Meſſias.</hi> </fw><lb/> <l>Selbſt ihr letztes’ Jammergeſchrey vermochte die zarte</l><lb/> <l>Zitternde Nerve bey euch nicht zu ruͤhren, die andern, beym Anblick</l><lb/> <l>Einer bittenden Thraͤne, die ganze Seele bewegte?</l><lb/> <l>Zwar ich fodre von euch nicht, durch ſuͤßen heiligen Schauer,</l><lb/> <l>Bey der Erblickung der leidenden Unſchuld, erſchuͤttert zu werden;</l><lb/> <l>(Litte die Unſchuld noch; ſo waͤr der dieſen Gerechten</l><lb/> <l>Eine Seligkeit mehr!) doch fordr’ ich Spuren der Menſchheit,</l><lb/> <l>Schwache Daͤmmerung doch von einer unſterblichen Seele!</l><lb/> <l>Ach kein Mitleid! Jhr konntet den Wurm auf der Erde nicht anſchaun,</l><lb/> <l>Ohne den Schoͤpfer voll Huld in des Wurmes Freude zu ſehen!</l><lb/> <l>Euer Auge konntet ihr nie gen Himmel erheben,</l><lb/> <l>Ohne den großen Erbarmer zu ſehn! Jhr habt es gen Himmel</l><lb/> <l>Niemals erhoben! Nie habt ihr geweint! Jhr habet euch niemals</l><lb/> <l>Eines Menſchen erbarmet! So hoͤrt denn die Rache, die ſaͤumte;</l><lb/> <l>Und nun eilet: Der Richter der Welt erbarmet ſich auch nicht!</l> </lg><lb/> <lg n="12"> <l>Elim ſprach noch, als ſich auf dem Throne der Richtende wandte:</l><lb/> <l>Sieh, er wandt’ auf Einmal ſein ſchreckentragendes Auge</l><lb/> <l>Gegen einen der Todesengel. Wie kann ich ſein Umſchaun,</l><lb/> <l>Wie ausſprechen den Zorn, der ihm vom Angeſicht ausgieng,</l><lb/> <l>Und die Stimme, mit der er rief! So gebot er dem Seraph:</l> </lg><lb/> <lg n="13"> <l>Steig herunter, und ruͤhre ſie an; geuß traͤumende Schrecken</l><lb/> <l>Ueber ſie aus, daß vor ihrem erſchuͤtterten Geiſte vorbeygeh’</l><lb/> <l>Jhrer nahenden Quaal Anſchaun, und Vergeltung beginne!</l> </lg><lb/> <lg n="14"> <l>Alſo ſprach der Richter Entſetzen. Gleich dem Gedanken</l><lb/> <l>Eilte der Todesengel; goß aus vor der Schaar der Verfolger</l><lb/> <l>Eine Mitternacht; naht’ ihnen; ſein donnernder Ruf war:</l><lb/> <l>Folgt, und ſeht! gieng eilend voran; ſah nach den Verfolgern</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Drohend</fw><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [90/0090]
Der Meſſias.
Selbſt ihr letztes’ Jammergeſchrey vermochte die zarte
Zitternde Nerve bey euch nicht zu ruͤhren, die andern, beym Anblick
Einer bittenden Thraͤne, die ganze Seele bewegte?
Zwar ich fodre von euch nicht, durch ſuͤßen heiligen Schauer,
Bey der Erblickung der leidenden Unſchuld, erſchuͤttert zu werden;
(Litte die Unſchuld noch; ſo waͤr der dieſen Gerechten
Eine Seligkeit mehr!) doch fordr’ ich Spuren der Menſchheit,
Schwache Daͤmmerung doch von einer unſterblichen Seele!
Ach kein Mitleid! Jhr konntet den Wurm auf der Erde nicht anſchaun,
Ohne den Schoͤpfer voll Huld in des Wurmes Freude zu ſehen!
Euer Auge konntet ihr nie gen Himmel erheben,
Ohne den großen Erbarmer zu ſehn! Jhr habt es gen Himmel
Niemals erhoben! Nie habt ihr geweint! Jhr habet euch niemals
Eines Menſchen erbarmet! So hoͤrt denn die Rache, die ſaͤumte;
Und nun eilet: Der Richter der Welt erbarmet ſich auch nicht!
Elim ſprach noch, als ſich auf dem Throne der Richtende wandte:
Sieh, er wandt’ auf Einmal ſein ſchreckentragendes Auge
Gegen einen der Todesengel. Wie kann ich ſein Umſchaun,
Wie ausſprechen den Zorn, der ihm vom Angeſicht ausgieng,
Und die Stimme, mit der er rief! So gebot er dem Seraph:
Steig herunter, und ruͤhre ſie an; geuß traͤumende Schrecken
Ueber ſie aus, daß vor ihrem erſchuͤtterten Geiſte vorbeygeh’
Jhrer nahenden Quaal Anſchaun, und Vergeltung beginne!
Alſo ſprach der Richter Entſetzen. Gleich dem Gedanken
Eilte der Todesengel; goß aus vor der Schaar der Verfolger
Eine Mitternacht; naht’ ihnen; ſein donnernder Ruf war:
Folgt, und ſeht! gieng eilend voran; ſah nach den Verfolgern
Drohend
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |