Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

Bild:
<< vorherige Seite

des griechischen Sylbenmasses im Deutschen.
durch die Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da sie
der Gedanke des Dichters beschäftigt. Wenn die Harmonie
der Verse dem Ohre, auf diese Weise gefällt, so haben wir
zwar schon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir er-
reichen konnten. Es ist noch ein gewisser Wohlklang übrig,
der mit den Gedanken verbunden ist, und der sie ausdrücken
hilft. Es ist aber nichts schwerer zu bestimmen, als diese
höchste Feinheit der Harmonie. Die Grammatici haben sie,
"den lebendigen Ausdruck" genannt, und ihn oft dann nur
im Virgil oder Homer gefunden, wenn diese ihn etwa über-
trieben, und ihm also seine eigentliche Schönheit, die vorzüg-
lich in der Feinheit besteht, genommen; oder in andern Stel-
len nicht daran gedacht hatten, daß Scholiasten kommen,
und ihnen hier eine Schönheit von dieser Art Schuld geben,
würden. Verschiedne Grade der Langsamkeit oder Geschwin-
digkeit; etwas von sanften oder heftigen Leidenschaften; einige
feinere Minen von demjenigen, was in einem Gedichte vor-
züglich Handlung genannt zu werden verdient, können, durch
den lebendigen Ausdruck, von ferne nachgeahmt werden.
Wenn der Poet dieses thut; so braucht er, oder es glücken ihm
vielmehr einige seiner zartesten Künste der Ausbildung, die ihm
eben so leicht mislingen können, so bald er zu sehr mit Vorsaz
handelt, oder seine Einbildungskraft das enge Gebiet dieser Ne-
benzüge zu hitzig erweitert, und sich aus der Harmonie eines
Gedichts in die Musik versteigt. Jch muß zwar zugestehn,
daß es Fälle giebt, wo der lebendige Ausdruck dasjenige stark
sagen muß, was er sagen will. Aber überhaupt sollte man die
Regel fest setzen, sich demselben vielmehr zu nähern, als ihn zu
erreichen. Und die Anwendung dieser Regel sollte man nur bey
der Beurtheilung seiner Arbeit nöthig haben. Denn wenn
diese Art Schönheit recht gelingen soll, so muß sie im Feuer
der Ausarbeitung fast unvermerkt entstehen.

Auf
)( 5

des griechiſchen Sylbenmaſſes im Deutſchen.
durch die Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da ſie
der Gedanke des Dichters beſchaͤftigt. Wenn die Harmonie
der Verſe dem Ohre, auf dieſe Weiſe gefaͤllt, ſo haben wir
zwar ſchon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir er-
reichen konnten. Es iſt noch ein gewiſſer Wohlklang uͤbrig,
der mit den Gedanken verbunden iſt, und der ſie ausdruͤcken
hilft. Es iſt aber nichts ſchwerer zu beſtimmen, als dieſe
hoͤchſte Feinheit der Harmonie. Die Grammatici haben ſie,
„den lebendigen Ausdruck‟ genannt, und ihn oft dann nur
im Virgil oder Homer gefunden, wenn dieſe ihn etwa uͤber-
trieben, und ihm alſo ſeine eigentliche Schoͤnheit, die vorzuͤg-
lich in der Feinheit beſteht, genommen; oder in andern Stel-
len nicht daran gedacht hatten, daß Scholiaſten kommen,
und ihnen hier eine Schoͤnheit von dieſer Art Schuld geben,
wuͤrden. Verſchiedne Grade der Langſamkeit oder Geſchwin-
digkeit; etwas von ſanften oder heftigen Leidenſchaften; einige
feinere Minen von demjenigen, was in einem Gedichte vor-
zuͤglich Handlung genannt zu werden verdient, koͤnnen, durch
den lebendigen Ausdruck, von ferne nachgeahmt werden.
Wenn der Poet dieſes thut; ſo braucht er, oder es gluͤcken ihm
vielmehr einige ſeiner zarteſten Kuͤnſte der Ausbildung, die ihm
eben ſo leicht mislingen koͤnnen, ſo bald er zu ſehr mit Vorſaz
handelt, oder ſeine Einbildungskraft das enge Gebiet dieſer Ne-
benzuͤge zu hitzig erweitert, und ſich aus der Harmonie eines
Gedichts in die Muſik verſteigt. Jch muß zwar zugeſtehn,
daß es Faͤlle giebt, wo der lebendige Ausdruck dasjenige ſtark
ſagen muß, was er ſagen will. Aber uͤberhaupt ſollte man die
Regel feſt ſetzen, ſich demſelben vielmehr zu naͤhern, als ihn zu
erreichen. Und die Anwendung dieſer Regel ſollte man nur bey
der Beurtheilung ſeiner Arbeit noͤthig haben. Denn wenn
dieſe Art Schoͤnheit recht gelingen ſoll, ſo muß ſie im Feuer
der Ausarbeitung faſt unvermerkt entſtehen.

Auf
)( 5
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0009"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des griechi&#x017F;chen Sylbenma&#x017F;&#x017F;es im Deut&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
durch die Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da &#x017F;ie<lb/>
der Gedanke des Dichters be&#x017F;cha&#x0364;ftigt. Wenn die Harmonie<lb/>
der Ver&#x017F;e dem Ohre, auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e gefa&#x0364;llt, &#x017F;o haben wir<lb/>
zwar &#x017F;chon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir er-<lb/>
reichen konnten. Es i&#x017F;t noch ein gewi&#x017F;&#x017F;er Wohlklang u&#x0364;brig,<lb/>
der mit den Gedanken verbunden i&#x017F;t, und der &#x017F;ie ausdru&#x0364;cken<lb/>
hilft. Es i&#x017F;t aber nichts &#x017F;chwerer zu be&#x017F;timmen, als die&#x017F;e<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te Feinheit der Harmonie. Die Grammatici haben &#x017F;ie,<lb/>
&#x201E;den lebendigen Ausdruck&#x201F; genannt, und ihn oft dann nur<lb/>
im Virgil oder Homer gefunden, wenn die&#x017F;e ihn etwa u&#x0364;ber-<lb/>
trieben, und ihm al&#x017F;o &#x017F;eine eigentliche Scho&#x0364;nheit, die vorzu&#x0364;g-<lb/>
lich in der Feinheit be&#x017F;teht, genommen; oder in andern Stel-<lb/>
len nicht daran gedacht hatten, daß Scholia&#x017F;ten kommen,<lb/>
und ihnen hier eine Scho&#x0364;nheit von die&#x017F;er Art Schuld geben,<lb/>
wu&#x0364;rden. Ver&#x017F;chiedne Grade der Lang&#x017F;amkeit oder Ge&#x017F;chwin-<lb/>
digkeit; etwas von &#x017F;anften oder heftigen Leiden&#x017F;chaften; einige<lb/>
feinere Minen von demjenigen, was in einem Gedichte vor-<lb/>
zu&#x0364;glich Handlung genannt zu werden verdient, ko&#x0364;nnen, durch<lb/>
den lebendigen Ausdruck, von ferne nachgeahmt werden.<lb/>
Wenn der Poet die&#x017F;es thut; &#x017F;o braucht er, oder es glu&#x0364;cken ihm<lb/>
vielmehr einige &#x017F;einer zarte&#x017F;ten Ku&#x0364;n&#x017F;te der Ausbildung, die ihm<lb/>
eben &#x017F;o leicht mislingen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o bald er zu &#x017F;ehr mit Vor&#x017F;az<lb/>
handelt, oder &#x017F;eine Einbildungskraft das enge Gebiet die&#x017F;er Ne-<lb/>
benzu&#x0364;ge zu hitzig erweitert, und &#x017F;ich aus der Harmonie eines<lb/>
Gedichts in die Mu&#x017F;ik ver&#x017F;teigt. Jch muß zwar zuge&#x017F;tehn,<lb/>
daß es Fa&#x0364;lle giebt, wo der lebendige Ausdruck dasjenige &#x017F;tark<lb/>
&#x017F;agen muß, was er &#x017F;agen will. Aber u&#x0364;berhaupt &#x017F;ollte man die<lb/>
Regel fe&#x017F;t &#x017F;etzen, &#x017F;ich dem&#x017F;elben vielmehr zu na&#x0364;hern, als ihn zu<lb/>
erreichen. Und die Anwendung die&#x017F;er Regel &#x017F;ollte man nur bey<lb/>
der Beurtheilung &#x017F;einer Arbeit no&#x0364;thig haben. Denn wenn<lb/>
die&#x017F;e Art Scho&#x0364;nheit recht gelingen &#x017F;oll, &#x017F;o muß &#x017F;ie im Feuer<lb/>
der Ausarbeitung fa&#x017F;t unvermerkt ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">)( 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Auf</fw><lb/>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[0009] des griechiſchen Sylbenmaſſes im Deutſchen. durch die Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da ſie der Gedanke des Dichters beſchaͤftigt. Wenn die Harmonie der Verſe dem Ohre, auf dieſe Weiſe gefaͤllt, ſo haben wir zwar ſchon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir er- reichen konnten. Es iſt noch ein gewiſſer Wohlklang uͤbrig, der mit den Gedanken verbunden iſt, und der ſie ausdruͤcken hilft. Es iſt aber nichts ſchwerer zu beſtimmen, als dieſe hoͤchſte Feinheit der Harmonie. Die Grammatici haben ſie, „den lebendigen Ausdruck‟ genannt, und ihn oft dann nur im Virgil oder Homer gefunden, wenn dieſe ihn etwa uͤber- trieben, und ihm alſo ſeine eigentliche Schoͤnheit, die vorzuͤg- lich in der Feinheit beſteht, genommen; oder in andern Stel- len nicht daran gedacht hatten, daß Scholiaſten kommen, und ihnen hier eine Schoͤnheit von dieſer Art Schuld geben, wuͤrden. Verſchiedne Grade der Langſamkeit oder Geſchwin- digkeit; etwas von ſanften oder heftigen Leidenſchaften; einige feinere Minen von demjenigen, was in einem Gedichte vor- zuͤglich Handlung genannt zu werden verdient, koͤnnen, durch den lebendigen Ausdruck, von ferne nachgeahmt werden. Wenn der Poet dieſes thut; ſo braucht er, oder es gluͤcken ihm vielmehr einige ſeiner zarteſten Kuͤnſte der Ausbildung, die ihm eben ſo leicht mislingen koͤnnen, ſo bald er zu ſehr mit Vorſaz handelt, oder ſeine Einbildungskraft das enge Gebiet dieſer Ne- benzuͤge zu hitzig erweitert, und ſich aus der Harmonie eines Gedichts in die Muſik verſteigt. Jch muß zwar zugeſtehn, daß es Faͤlle giebt, wo der lebendige Ausdruck dasjenige ſtark ſagen muß, was er ſagen will. Aber uͤberhaupt ſollte man die Regel feſt ſetzen, ſich demſelben vielmehr zu naͤhern, als ihn zu erreichen. Und die Anwendung dieſer Regel ſollte man nur bey der Beurtheilung ſeiner Arbeit noͤthig haben. Denn wenn dieſe Art Schoͤnheit recht gelingen ſoll, ſo muß ſie im Feuer der Ausarbeitung faſt unvermerkt entſtehen. Auf )( 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/9
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/9>, abgerufen am 21.11.2024.