[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.
Portia sprachs, und sie stiegen hinab. Die edlere Heidinn Sieht mit ernstem Angesicht nieder. Noch schweigt sie, voll Wunderns Ueber den Traum, und vertieft in neue Gedanken. Jhr Engel Hatt' in ihre Seele den Traum gegossen, und immer Aus den Lieblingsgedanken, die sie am feurigsten dachte, Neue Gedanken entwickelt, in ihrem Herzen die feinsten, Zartesten Saiten gewisser zu treffen, und ganz sie zu rühren. Jzt entreißt sie sich ihren Betrachtungen, sagt zu Maria: Sokrates ... zwar du kennst ihn nicht; aber ich schaure vor Freuden, Wenn ich ihn nenne! das edelste Leben, das iemals gelebt ward, Krönt' er mit einem Tode, der, selbst dieß Leben, erhöhte! Sokrates ... immer hab ich den Weisen bewundert! sein Bildniß Unaufhörlich betrachtet, ihn sah ich im Traume. Da nannt er Seinen unsterblichen Namen; Jch Sokrates, den du bewunderst, Komm aus den Gegenden über den Gräbern herüber. Verlerne, Mich zu bewundern! Die Gottheit ist nicht, wofür wir sie hielten, Jch im Schatten der strengeren Weisheit; ihr an den Altären. Ganz
Portia ſprachs, und ſie ſtiegen hinab. Die edlere Heidinn Sieht mit ernſtem Angeſicht nieder. Noch ſchweigt ſie, voll Wunderns Ueber den Traum, und vertieft in neue Gedanken. Jhr Engel Hatt’ in ihre Seele den Traum gegoſſen, und immer Aus den Lieblingsgedanken, die ſie am feurigſten dachte, Neue Gedanken entwickelt, in ihrem Herzen die feinſten, Zarteſten Saiten gewiſſer zu treffen, und ganz ſie zu ruͤhren. Jzt entreißt ſie ſich ihren Betrachtungen, ſagt zu Maria: Sokrates … zwar du kennſt ihn nicht; aber ich ſchaure vor Freuden, Wenn ich ihn nenne! das edelſte Leben, das iemals gelebt ward, Kroͤnt’ er mit einem Tode, der, ſelbſt dieß Leben, erhoͤhte! Sokrates … immer hab ich den Weiſen bewundert! ſein Bildniß Unaufhoͤrlich betrachtet, ihn ſah ich im Traume. Da nannt er Seinen unſterblichen Namen; Jch Sokrates, den du bewunderſt, Komm aus den Gegenden uͤber den Graͤbern heruͤber. Verlerne, Mich zu bewundern! Die Gottheit iſt nicht, wofuͤr wir ſie hielten, Jch im Schatten der ſtrengeren Weisheit; ihr an den Altaͤren. Ganz
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Der Meſſias.
Dieſe war izt gekommen, empfing die neuen Befehle:
Geh zu Pilatus, und ſag ihm: Er iſt ein groſſer, gerechter,
Goͤttlicher Mann, den du richteſt! Verdamme du nicht den Gerechten!
Um des Goͤttlichen willen, Pilatus, hat ein Geſicht mich
Heut im Schlafe geſchrekt! … So ſtill denn, liebende Mutter,
Deine Schmerzen, und komm, daß ich unter die Blumen dich fuͤhre,
Dort in die Morgenſonne, damit wir die Menge nicht hoͤren;
Jch dir ſage, was mich die ernſte Stunde gelehrt hat.
Portia ſprachs, und ſie ſtiegen hinab. Die edlere Heidinn
Sieht mit ernſtem Angeſicht nieder. Noch ſchweigt ſie, voll Wunderns
Ueber den Traum, und vertieft in neue Gedanken. Jhr Engel
Hatt’ in ihre Seele den Traum gegoſſen, und immer
Aus den Lieblingsgedanken, die ſie am feurigſten dachte,
Neue Gedanken entwickelt, in ihrem Herzen die feinſten,
Zarteſten Saiten gewiſſer zu treffen, und ganz ſie zu ruͤhren.
Jzt entreißt ſie ſich ihren Betrachtungen, ſagt zu Maria:
Sokrates … zwar du kennſt ihn nicht; aber ich ſchaure vor Freuden,
Wenn ich ihn nenne! das edelſte Leben, das iemals gelebt ward,
Kroͤnt’ er mit einem Tode, der, ſelbſt dieß Leben, erhoͤhte!
Sokrates … immer hab ich den Weiſen bewundert! ſein Bildniß
Unaufhoͤrlich betrachtet, ihn ſah ich im Traume. Da nannt er
Seinen unſterblichen Namen; Jch Sokrates, den du bewunderſt,
Komm aus den Gegenden uͤber den Graͤbern heruͤber. Verlerne,
Mich zu bewundern! Die Gottheit iſt nicht, wofuͤr wir ſie hielten,
Jch im Schatten der ſtrengeren Weisheit; ihr an den Altaͤren.
Ganz
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Zitationshilfe: | [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/68>, abgerufen am 16.02.2025. |