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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

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Sechster Gesang.
Also sprachen sie. Portia sah den Göttlichen leiden;
Konnte den bangen Anblick nicht länger ertragen; erhub sich
Auf den Söller. Mit aufgehobnen, ringenden Händen,
Stand sie, mit Augen die starr zum dämmernden Himmel hinaufsahn,
Und so zweifelt' ihr Herz: O du, der Erste der Götter!
Der die Welt aus Nächten erschuf, und Menschen ein Herz gab!
Wie dein Namen auch heißt, Gott! Jupiter! oder Jehova!
Romulus oder Abrahams Gott! nicht einzelner Menschen,
Nein! Du Aller Vater und Richter! o darf ichs dir weinen,
Was mir meine Seele zerreißt! Was hat er verbrochen,
Dieser friedsame Mann, daß ihn Unmenschliche tödten?
Jst er dir so festlich, der Anblick, die leidende Tugend,
Gott! von deinem Olympus zu sehn? Er ist es den Menschen!
Süß und schauervoll ist sie den Menschen die stolze Bewundrung!
Doch kann der bewundern, er, der die Sterne gemacht hat?
Nein! du kannst nicht bewundern! Allein ein hohes Gefühl ists
Für den Gott der Götter; es könnte sein göttliches Auge
Sonst nicht sehn, daß der Schuldlose litte! Wie wirst du ihn lohnen,
Der dir diesen festlichen Pomp der Menschheit aufführt.
Mir, mir rinnt das Mitleid die Wang' herunter; allein du,
Kennst nur an der leidenden Tugend die bebende Thräne!
Gott der Götter, belohn, und ists dir möglich, bewundr' ihn!
Als sie nun auf den Söller sich drüberneigend gebückt hat,
Hört sie am untern Palaste wie eines verzweifelnden Stimme.
Petrus war es. Der fromme Johannes war unten am Thore
Stehn geblieben. Er hörte den jammernden Petrus, erkannt' ihn,
Rief
B 4
Sechſter Geſang.
Alſo ſprachen ſie. Portia ſah den Goͤttlichen leiden;
Konnte den bangen Anblick nicht laͤnger ertragen; erhub ſich
Auf den Soͤller. Mit aufgehobnen, ringenden Haͤnden,
Stand ſie, mit Augen die ſtarr zum daͤmmernden Himmel hinaufſahn,
Und ſo zweifelt’ ihr Herz: O du, der Erſte der Goͤtter!
Der die Welt aus Naͤchten erſchuf, und Menſchen ein Herz gab!
Wie dein Namen auch heißt, Gott! Jupiter! oder Jehova!
Romulus oder Abrahams Gott! nicht einzelner Menſchen,
Nein! Du Aller Vater und Richter! o darf ichs dir weinen,
Was mir meine Seele zerreißt! Was hat er verbrochen,
Dieſer friedſame Mann, daß ihn Unmenſchliche toͤdten?
Jſt er dir ſo feſtlich, der Anblick, die leidende Tugend,
Gott! von deinem Olympus zu ſehn? Er iſt es den Menſchen!
Suͤß und ſchauervoll iſt ſie den Menſchen die ſtolze Bewundrung!
Doch kann der bewundern, er, der die Sterne gemacht hat?
Nein! du kannſt nicht bewundern! Allein ein hohes Gefuͤhl iſts
Fuͤr den Gott der Goͤtter; es koͤnnte ſein goͤttliches Auge
Sonſt nicht ſehn, daß der Schuldloſe litte! Wie wirſt du ihn lohnen,
Der dir dieſen feſtlichen Pomp der Menſchheit auffuͤhrt.
Mir, mir rinnt das Mitleid die Wang’ herunter; allein du,
Kennſt nur an der leidenden Tugend die bebende Thraͤne!
Gott der Goͤtter, belohn, und iſts dir moͤglich, bewundr’ ihn!
Als ſie nun auf den Soͤller ſich druͤberneigend gebuͤckt hat,
Hoͤrt ſie am untern Palaſte wie eines verzweifelnden Stimme.
Petrus war es. Der fromme Johannes war unten am Thore
Stehn geblieben. Er hoͤrte den jammernden Petrus, erkannt’ ihn,
Rief
B 4
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[23/0045] Sechſter Geſang. Alſo ſprachen ſie. Portia ſah den Goͤttlichen leiden; Konnte den bangen Anblick nicht laͤnger ertragen; erhub ſich Auf den Soͤller. Mit aufgehobnen, ringenden Haͤnden, Stand ſie, mit Augen die ſtarr zum daͤmmernden Himmel hinaufſahn, Und ſo zweifelt’ ihr Herz: O du, der Erſte der Goͤtter! Der die Welt aus Naͤchten erſchuf, und Menſchen ein Herz gab! Wie dein Namen auch heißt, Gott! Jupiter! oder Jehova! Romulus oder Abrahams Gott! nicht einzelner Menſchen, Nein! Du Aller Vater und Richter! o darf ichs dir weinen, Was mir meine Seele zerreißt! Was hat er verbrochen, Dieſer friedſame Mann, daß ihn Unmenſchliche toͤdten? Jſt er dir ſo feſtlich, der Anblick, die leidende Tugend, Gott! von deinem Olympus zu ſehn? Er iſt es den Menſchen! Suͤß und ſchauervoll iſt ſie den Menſchen die ſtolze Bewundrung! Doch kann der bewundern, er, der die Sterne gemacht hat? Nein! du kannſt nicht bewundern! Allein ein hohes Gefuͤhl iſts Fuͤr den Gott der Goͤtter; es koͤnnte ſein goͤttliches Auge Sonſt nicht ſehn, daß der Schuldloſe litte! Wie wirſt du ihn lohnen, Der dir dieſen feſtlichen Pomp der Menſchheit auffuͤhrt. Mir, mir rinnt das Mitleid die Wang’ herunter; allein du, Kennſt nur an der leidenden Tugend die bebende Thraͤne! Gott der Goͤtter, belohn, und iſts dir moͤglich, bewundr’ ihn! Als ſie nun auf den Soͤller ſich druͤberneigend gebuͤckt hat, Hoͤrt ſie am untern Palaſte wie eines verzweifelnden Stimme. Petrus war es. Der fromme Johannes war unten am Thore Stehn geblieben. Er hoͤrte den jammernden Petrus, erkannt’ ihn, Rief B 4

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/45>, abgerufen am 21.11.2024.