Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechster Gesang.

Ach, ich seh ihn nicht mehr! die hohen Flammen verschwinden!
Nun, nun richten sie ihn! Daß ihre grimmige Seele
Schaure beym Anblick der leidenden Tugend! sich einmal, nur einmal,
Einmal in ihrem Leben, das kommende Weltgericht denke!
Doch wer wandelt im Dunkeln herauf? Jsts Petrus? vernahm ers,
Wie sie zum Tod ihn verdammten? So schnell! Nun steht er! Wen sah ich?
Keines Fußtritt hör ich nicht mehr! Wie ist es hier öde!
Wie so stumm die entsezliche Nacht! Doch die Stille verliert sich.
Welche Mengen stürmen daher! Ach, sie eilen, und reissen
Jhn in der deckenden Nacht zum Tode, damit ihn des Volkes
Menschlichkeit nicht errette! damit an rinnenden Steinen,
Oder, herunter am triefenden Schwerte, nur Engel sein Blut sehn!
Ach, erbarme dich meiner! Erbarme dich meiner, und laß ihn,
Vater des Mitleids und deiner Erschaffnen, und laß ihn nicht sterben!

Also dacht' er, und sprachs in gebrochnen Worten, und wankte
Gegen des Hohenpriesters Palast, und blieb in der Nacht stehn.
Aber der Führer der Schaar, die Jesum begleitete, Philo
Riß sich wütend voran, eilt' in die Versammlung, und alle
Sahns an seinem Triumph, und dem hohen, flammenden Auge,
Daß der Todtenerwecker gebunden, und dicht am Palast sey!
Und sie hatten nicht Zeit, daß sie Philo jauchzten. Der Gottmensch
Trat herein. Sie sahn den Kommenden, trauten dem Anblick
Kaum die Wirklichkeit zu, und bebten vor Wut und Entzückung.
Aber er trat die Stufen herauf, und stand vor dem Richtstul.
Alle Hoheit, so gar die Hoheit des sterblichen Weisen
Hatt' er abgelegt; war nur ruhig, als säh er den Abfall
Einer Quelle vor sich, und dächte nur sanfte Gedanken,
Nach

Sechſter Geſang.

Ach, ich ſeh ihn nicht mehr! die hohen Flammen verſchwinden!
Nun, nun richten ſie ihn! Daß ihre grimmige Seele
Schaure beym Anblick der leidenden Tugend! ſich einmal, nur einmal,
Einmal in ihrem Leben, das kommende Weltgericht denke!
Doch wer wandelt im Dunkeln herauf? Jſts Petrus? vernahm ers,
Wie ſie zum Tod ihn verdammten? So ſchnell! Nun ſteht er! Wen ſah ich?
Keines Fußtritt hoͤr ich nicht mehr! Wie iſt es hier oͤde!
Wie ſo ſtumm die entſezliche Nacht! Doch die Stille verliert ſich.
Welche Mengen ſtuͤrmen daher! Ach, ſie eilen, und reiſſen
Jhn in der deckenden Nacht zum Tode, damit ihn des Volkes
Menſchlichkeit nicht errette! damit an rinnenden Steinen,
Oder, herunter am triefenden Schwerte, nur Engel ſein Blut ſehn!
Ach, erbarme dich meiner! Erbarme dich meiner, und laß ihn,
Vater des Mitleids und deiner Erſchaffnen, und laß ihn nicht ſterben!

Alſo dacht’ er, und ſprachs in gebrochnen Worten, und wankte
Gegen des Hohenprieſters Palaſt, und blieb in der Nacht ſtehn.
Aber der Fuͤhrer der Schaar, die Jeſum begleitete, Philo
Riß ſich wuͤtend voran, eilt’ in die Verſammlung, und alle
Sahns an ſeinem Triumph, und dem hohen, flammenden Auge,
Daß der Todtenerwecker gebunden, und dicht am Palaſt ſey!
Und ſie hatten nicht Zeit, daß ſie Philo jauchzten. Der Gottmenſch
Trat herein. Sie ſahn den Kommenden, trauten dem Anblick
Kaum die Wirklichkeit zu, und bebten vor Wut und Entzuͤckung.
Aber er trat die Stufen herauf, und ſtand vor dem Richtſtul.
Alle Hoheit, ſo gar die Hoheit des ſterblichen Weiſen
Hatt’ er abgelegt; war nur ruhig, als ſaͤh er den Abfall
Einer Quelle vor ſich, und daͤchte nur ſanfte Gedanken,
Nach
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="13">
              <l>
                <pb facs="#f0033" n="11"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Sech&#x017F;ter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Ach, ich &#x017F;eh ihn nicht mehr! die hohen Flammen ver&#x017F;chwinden!</l><lb/>
              <l>Nun, nun richten &#x017F;ie ihn! Daß ihre grimmige Seele</l><lb/>
              <l>Schaure beym Anblick der leidenden Tugend! &#x017F;ich einmal, nur einmal,</l><lb/>
              <l>Einmal in ihrem Leben, das kommende Weltgericht denke!</l><lb/>
              <l>Doch wer wandelt im Dunkeln herauf? J&#x017F;ts Petrus? vernahm ers,</l><lb/>
              <l>Wie &#x017F;ie zum Tod ihn verdammten? So &#x017F;chnell! Nun &#x017F;teht er! Wen &#x017F;ah ich?</l><lb/>
              <l>Keines Fußtritt ho&#x0364;r ich nicht mehr! Wie i&#x017F;t es hier o&#x0364;de!</l><lb/>
              <l>Wie &#x017F;o &#x017F;tumm die ent&#x017F;ezliche Nacht! Doch die Stille verliert &#x017F;ich.</l><lb/>
              <l>Welche Mengen &#x017F;tu&#x0364;rmen daher! Ach, &#x017F;ie eilen, und rei&#x017F;&#x017F;en</l><lb/>
              <l>Jhn in der deckenden Nacht zum Tode, damit ihn des Volkes</l><lb/>
              <l>Men&#x017F;chlichkeit nicht errette! damit an rinnenden Steinen,</l><lb/>
              <l>Oder, herunter am triefenden Schwerte, nur Engel &#x017F;ein Blut &#x017F;ehn!</l><lb/>
              <l>Ach, erbarme dich meiner! Erbarme dich meiner, und laß ihn,</l><lb/>
              <l>Vater des Mitleids und deiner Er&#x017F;chaffnen, und laß ihn nicht &#x017F;terben!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="14">
              <l>Al&#x017F;o dacht&#x2019; er, und &#x017F;prachs in gebrochnen Worten, und wankte</l><lb/>
              <l>Gegen des Hohenprie&#x017F;ters Pala&#x017F;t, und blieb in der Nacht &#x017F;tehn.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="15">
              <l>Aber der Fu&#x0364;hrer der Schaar, die Je&#x017F;um begleitete, Philo</l><lb/>
              <l>Riß &#x017F;ich wu&#x0364;tend voran, eilt&#x2019; in die Ver&#x017F;ammlung, und alle</l><lb/>
              <l>Sahns an &#x017F;einem Triumph, und dem hohen, flammenden Auge,</l><lb/>
              <l>Daß der Todtenerwecker gebunden, und dicht am Pala&#x017F;t &#x017F;ey!</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;ie hatten nicht Zeit, daß &#x017F;ie Philo jauchzten. Der Gottmen&#x017F;ch</l><lb/>
              <l>Trat herein. Sie &#x017F;ahn den Kommenden, trauten dem Anblick</l><lb/>
              <l>Kaum die Wirklichkeit zu, und bebten vor Wut und Entzu&#x0364;ckung.</l><lb/>
              <l>Aber er trat die Stufen herauf, und &#x017F;tand vor dem Richt&#x017F;tul.</l><lb/>
              <l>Alle Hoheit, &#x017F;o gar die Hoheit des &#x017F;terblichen Wei&#x017F;en</l><lb/>
              <l>Hatt&#x2019; er abgelegt; war nur ruhig, als &#x017F;a&#x0364;h er den Abfall</l><lb/>
              <l>Einer Quelle vor &#x017F;ich, und da&#x0364;chte nur &#x017F;anfte Gedanken,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Nach</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0033] Sechſter Geſang. Ach, ich ſeh ihn nicht mehr! die hohen Flammen verſchwinden! Nun, nun richten ſie ihn! Daß ihre grimmige Seele Schaure beym Anblick der leidenden Tugend! ſich einmal, nur einmal, Einmal in ihrem Leben, das kommende Weltgericht denke! Doch wer wandelt im Dunkeln herauf? Jſts Petrus? vernahm ers, Wie ſie zum Tod ihn verdammten? So ſchnell! Nun ſteht er! Wen ſah ich? Keines Fußtritt hoͤr ich nicht mehr! Wie iſt es hier oͤde! Wie ſo ſtumm die entſezliche Nacht! Doch die Stille verliert ſich. Welche Mengen ſtuͤrmen daher! Ach, ſie eilen, und reiſſen Jhn in der deckenden Nacht zum Tode, damit ihn des Volkes Menſchlichkeit nicht errette! damit an rinnenden Steinen, Oder, herunter am triefenden Schwerte, nur Engel ſein Blut ſehn! Ach, erbarme dich meiner! Erbarme dich meiner, und laß ihn, Vater des Mitleids und deiner Erſchaffnen, und laß ihn nicht ſterben! Alſo dacht’ er, und ſprachs in gebrochnen Worten, und wankte Gegen des Hohenprieſters Palaſt, und blieb in der Nacht ſtehn. Aber der Fuͤhrer der Schaar, die Jeſum begleitete, Philo Riß ſich wuͤtend voran, eilt’ in die Verſammlung, und alle Sahns an ſeinem Triumph, und dem hohen, flammenden Auge, Daß der Todtenerwecker gebunden, und dicht am Palaſt ſey! Und ſie hatten nicht Zeit, daß ſie Philo jauchzten. Der Gottmenſch Trat herein. Sie ſahn den Kommenden, trauten dem Anblick Kaum die Wirklichkeit zu, und bebten vor Wut und Entzuͤckung. Aber er trat die Stufen herauf, und ſtand vor dem Richtſtul. Alle Hoheit, ſo gar die Hoheit des ſterblichen Weiſen Hatt’ er abgelegt; war nur ruhig, als ſaͤh er den Abfall Einer Quelle vor ſich, und daͤchte nur ſanfte Gedanken, Nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/33
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 2. Halle, 1756, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias02_1756/33>, abgerufen am 24.11.2024.