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[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.

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Zweyter Gesang.

Jesus, du solltest ihn sehn, du solltest den zärtlichen Jünger
Neben ihm voller mitleidigen Kummers und Wehmuth erblicken,
Wie ihm vor Menschenliebe sein Herz erbarmend zerfließet,
Wie er erbebt. Mir selbst drang eine wehmüthige Thräne
Zitternd ins Auge. Da wandt ich mich weg. Das Leiden der Geister,
Die du zur Ewigkeit schufst, ist mir stets durch die Seele gedrungen.

Raphael schwieg. Das Auge des Mittlers sah zürnend gen Himmel.
Großer Vater, erhöre mich itzt! Der Menschenfeind werde
Deinen Gerichten ein ewiges Opfer, das jauchzend der Himmel,
Das voll Bestürzung und Schand und Schmach die Hölle betrachte!
Also sagt er, und näherte sich den Gräbern der Todten.
Unten am mitternächtlichen Oelberge waren die Gräber
Jn zusammengebirgte zerrüttete Felsen gehauen.
Dick und finster verwachsene Wälder verwahrten den Eingang
Vor dem Blicke des fliehenden Wandrers. Ein trauriger Morgen
Stieg, wenn über Jerusalem schon der Mittag sich senkte,
Zu den Gräbern noch dämmernd mit kühlem Schauer hinunter.
Samma, so hieß der besessene Mann, lag neben dem Grabe
Seines jüngsten geliebtesten Sohns in kläglicher Ohnmacht.
Satan ließ ihm die Ruh, ihn desto ergrimmter zu quälen.
Hier lag er bey den Gebeinen des Knabens in Moder und Asche.
Neben ihm stand sein anderer Sohn, und weinte zu Gott auf.
Jenen verstorbenen, welchen der Vater und Bruder beweinten,
Hatte vordem die zu zärtliche Mutter, durch Flehen erweichet,
Mit in die Gräber zum Vater hinab gebracht, welchen Satan
Unge-
C 3

Zweyter Geſang.

Jeſus, du ſollteſt ihn ſehn, du ſollteſt den zaͤrtlichen Juͤnger
Neben ihm voller mitleidigen Kummers und Wehmuth erblicken,
Wie ihm vor Menſchenliebe ſein Herz erbarmend zerfließet,
Wie er erbebt. Mir ſelbſt drang eine wehmuͤthige Thraͤne
Zitternd ins Auge. Da wandt ich mich weg. Das Leiden der Geiſter,
Die du zur Ewigkeit ſchufſt, iſt mir ſtets durch die Seele gedrungen.

Raphael ſchwieg. Das Auge des Mittlers ſah zuͤrnend gen Himmel.
Großer Vater, erhoͤre mich itzt! Der Menſchenfeind werde
Deinen Gerichten ein ewiges Opfer, das jauchzend der Himmel,
Das voll Beſtuͤrzung und Schand und Schmach die Hoͤlle betrachte!
Alſo ſagt er, und naͤherte ſich den Graͤbern der Todten.
Unten am mitternaͤchtlichen Oelberge waren die Graͤber
Jn zuſammengebirgte zerruͤttete Felſen gehauen.
Dick und finſter verwachſene Waͤlder verwahrten den Eingang
Vor dem Blicke des fliehenden Wandrers. Ein trauriger Morgen
Stieg, wenn uͤber Jeruſalem ſchon der Mittag ſich ſenkte,
Zu den Graͤbern noch daͤmmernd mit kuͤhlem Schauer hinunter.
Samma, ſo hieß der beſeſſene Mann, lag neben dem Grabe
Seines juͤngſten geliebteſten Sohns in klaͤglicher Ohnmacht.
Satan ließ ihm die Ruh, ihn deſto ergrimmter zu quaͤlen.
Hier lag er bey den Gebeinen des Knabens in Moder und Aſche.
Neben ihm ſtand ſein anderer Sohn, und weinte zu Gott auf.
Jenen verſtorbenen, welchen der Vater und Bruder beweinten,
Hatte vordem die zu zaͤrtliche Mutter, durch Flehen erweichet,
Mit in die Graͤber zum Vater hinab gebracht, welchen Satan
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[37/0049] Zweyter Geſang. Jeſus, du ſollteſt ihn ſehn, du ſollteſt den zaͤrtlichen Juͤnger Neben ihm voller mitleidigen Kummers und Wehmuth erblicken, Wie ihm vor Menſchenliebe ſein Herz erbarmend zerfließet, Wie er erbebt. Mir ſelbſt drang eine wehmuͤthige Thraͤne Zitternd ins Auge. Da wandt ich mich weg. Das Leiden der Geiſter, Die du zur Ewigkeit ſchufſt, iſt mir ſtets durch die Seele gedrungen. Raphael ſchwieg. Das Auge des Mittlers ſah zuͤrnend gen Himmel. Großer Vater, erhoͤre mich itzt! Der Menſchenfeind werde Deinen Gerichten ein ewiges Opfer, das jauchzend der Himmel, Das voll Beſtuͤrzung und Schand und Schmach die Hoͤlle betrachte! Alſo ſagt er, und naͤherte ſich den Graͤbern der Todten. Unten am mitternaͤchtlichen Oelberge waren die Graͤber Jn zuſammengebirgte zerruͤttete Felſen gehauen. Dick und finſter verwachſene Waͤlder verwahrten den Eingang Vor dem Blicke des fliehenden Wandrers. Ein trauriger Morgen Stieg, wenn uͤber Jeruſalem ſchon der Mittag ſich ſenkte, Zu den Graͤbern noch daͤmmernd mit kuͤhlem Schauer hinunter. Samma, ſo hieß der beſeſſene Mann, lag neben dem Grabe Seines juͤngſten geliebteſten Sohns in klaͤglicher Ohnmacht. Satan ließ ihm die Ruh, ihn deſto ergrimmter zu quaͤlen. Hier lag er bey den Gebeinen des Knabens in Moder und Aſche. Neben ihm ſtand ſein anderer Sohn, und weinte zu Gott auf. Jenen verſtorbenen, welchen der Vater und Bruder beweinten, Hatte vordem die zu zaͤrtliche Mutter, durch Flehen erweichet, Mit in die Graͤber zum Vater hinab gebracht, welchen Satan Unge- C 3

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Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/49>, abgerufen am 21.11.2024.