Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Meßias.

Welchen Himmel erschuf sich mein Geist, wenn du, Cidli, mich liebtest!
Welche Gefilde der Ruh um mich her! O, darf ich noch einmal,
Süßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweihen?
Du warst, Göttliche, mein! Durch keine kürzere Dauer,
Als durch die Ewigkeit, mein! Das nannt ich, für mich geschaffen!
Jeder Tugend erhabenen Wink, der mir unsichtbar sonst war,
Lernt ich durch deine Liebe verstehn! Mit zitternder Sorgfalt
Folgte mein Herz dem gebietenden Winke. Die Stimme der Pflichten
Hört ich von fern! Jhr werdendes Lispeln, ihr Wandeln im Stillen,
Jhren göttlichen Laut, wenn keiner sie hörte, vernahm ich!
Und nicht umsonst! Wie ein Kind voll Unschuld, mit biegsamen Herzen,
Folgt ich dem leichten Gesetz, der sanft gebietenden Stimme,
Daß ich deinen Besitz, die du mir theurer, als alles,
Was die Schöpfung hat, warst, durch keinen Fehltritt entweihte.
Gott selbst liebt ich noch mehr, weil du sein hohes Geschenk warst;
Weil ich, wie auf Flügeln, von deiner Unschuld getragen,
Näher dem Liebenswürdigen kam, der so schön dich gebildet,
Der so fühlend mein Herz, und deins so himmlisch gemacht hat.
Wie, ganz in Entzückungen aufgelöst, deine Mutter,
Da du gebohren warst, über dir hieng, und wie sie sich neigte
Ueber dein Antlitz mit Todesangst hin, da du ihrer Umarmung
Still entschlummertest, und sie den Schall der kommenden Füße
Noch nicht vernahm, noch die lockende Stimme des Helfers in Juda:
So hat meine Seele sich oft mit jeder Empfindung
Und mit jeder Entzückung in ihr, die sie mächtig erschüttert,
Auf den großen Gedanken gerichtet: du seyst ihr geschaffen!
Ausgebreitet hieng über ihn hin; die schauende Seele

Sah

Der Meßias.

Welchen Himmel erſchuf ſich mein Geiſt, wenn du, Cidli, mich liebteſt!
Welche Gefilde der Ruh um mich her! O, darf ich noch einmal,
Suͤßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweihẽ?
Du warſt, Goͤttliche, mein! Durch keine kuͤrzere Dauer,
Als durch die Ewigkeit, mein! Das nannt ich, fuͤr mich geſchaffen!
Jeder Tugend erhabenen Wink, der mir unſichtbar ſonſt war,
Lernt ich durch deine Liebe verſtehn! Mit zitternder Sorgfalt
Folgte mein Herz dem gebietenden Winke. Die Stimme der Pflichten
Hoͤrt ich von fern! Jhr werdendes Lispeln, ihr Wandeln im Stillen,
Jhren goͤttlichen Laut, wenn keiner ſie hoͤrte, vernahm ich!
Und nicht umſonſt! Wie ein Kind voll Unſchuld, mit biegſamen Herzen,
Folgt ich dem leichten Geſetz, der ſanft gebietenden Stimme,
Daß ich deinen Beſitz, die du mir theurer, als alles,
Was die Schoͤpfung hat, warſt, durch keinen Fehltritt entweihte.
Gott ſelbſt liebt ich noch mehr, weil du ſein hohes Geſchenk warſt;
Weil ich, wie auf Fluͤgeln, von deiner Unſchuld getragen,
Naͤher dem Liebenswuͤrdigen kam, der ſo ſchoͤn dich gebildet,
Der ſo fuͤhlend mein Herz, und deins ſo himmliſch gemacht hat.
Wie, ganz in Entzuͤckungen aufgeloͤſt, deine Mutter,
Da du gebohren warſt, uͤber dir hieng, und wie ſie ſich neigte
Ueber dein Antlitz mit Todesangſt hin, da du ihrer Umarmung
Still entſchlummerteſt, und ſie den Schall der kommenden Fuͤße
Noch nicht vernahm, noch die lockende Stimme des Helfers in Juda:
So hat meine Seele ſich oft mit jeder Empfindung
Und mit jeder Entzuͤckung in ihr, die ſie maͤchtig erſchuͤttert,
Auf den großen Gedanken gerichtet: du ſeyſt ihr geſchaffen!
Ausgebreitet hieng uͤber ihn hin; die ſchauende Seele

Sah
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="4">
              <l>
                <pb facs="#f0146" n="134"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Der Meßias.</hi> </fw>
              </l><lb/>
              <l>Welchen Himmel er&#x017F;chuf &#x017F;ich mein Gei&#x017F;t, wenn du, Cidli, mich liebte&#x017F;t!</l><lb/>
              <l>Welche Gefilde der Ruh um mich her! O, darf ich noch einmal,</l><lb/>
              <l>Su&#x0364;ßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweih&#x1EBD;?</l><lb/>
              <l>Du war&#x017F;t, Go&#x0364;ttliche, mein! Durch keine ku&#x0364;rzere Dauer,</l><lb/>
              <l>Als durch die Ewigkeit, mein! Das nannt ich, fu&#x0364;r mich ge&#x017F;chaffen!</l><lb/>
              <l>Jeder Tugend erhabenen Wink, der mir un&#x017F;ichtbar &#x017F;on&#x017F;t war,</l><lb/>
              <l>Lernt ich durch deine Liebe ver&#x017F;tehn! Mit zitternder Sorgfalt</l><lb/>
              <l>Folgte mein Herz dem gebietenden Winke. Die Stimme der Pflichten</l><lb/>
              <l>Ho&#x0364;rt ich von fern! Jhr werdendes Lispeln, ihr Wandeln im Stillen,</l><lb/>
              <l>Jhren go&#x0364;ttlichen Laut, wenn keiner &#x017F;ie ho&#x0364;rte, vernahm ich!</l><lb/>
              <l>Und nicht um&#x017F;on&#x017F;t! Wie ein Kind voll Un&#x017F;chuld, mit bieg&#x017F;amen Herzen,</l><lb/>
              <l>Folgt ich dem leichten Ge&#x017F;etz, der &#x017F;anft gebietenden Stimme,</l><lb/>
              <l>Daß ich deinen Be&#x017F;itz, die du mir theurer, als alles,</l><lb/>
              <l>Was die Scho&#x0364;pfung hat, war&#x017F;t, durch keinen Fehltritt entweihte.</l><lb/>
              <l>Gott &#x017F;elb&#x017F;t liebt ich noch mehr, weil du &#x017F;ein hohes Ge&#x017F;chenk war&#x017F;t;</l><lb/>
              <l>Weil ich, wie auf Flu&#x0364;geln, von deiner Un&#x017F;chuld getragen,</l><lb/>
              <l>Na&#x0364;her dem Liebenswu&#x0364;rdigen kam, der &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n dich gebildet,</l><lb/>
              <l>Der &#x017F;o fu&#x0364;hlend mein Herz, und deins &#x017F;o himmli&#x017F;ch gemacht hat.</l><lb/>
              <l>Wie, ganz in Entzu&#x0364;ckungen aufgelo&#x0364;&#x017F;t, deine Mutter,</l><lb/>
              <l>Da du gebohren war&#x017F;t, u&#x0364;ber dir hieng, und wie &#x017F;ie &#x017F;ich neigte</l><lb/>
              <l>Ueber dein Antlitz mit Todesang&#x017F;t hin, da du ihrer Umarmung</l><lb/>
              <l>Still ent&#x017F;chlummerte&#x017F;t, und &#x017F;ie den Schall der kommenden Fu&#x0364;ße</l><lb/>
              <l>Noch nicht vernahm, noch die lockende Stimme des Helfers in Juda:</l><lb/>
              <l>So hat meine Seele &#x017F;ich oft mit jeder Empfindung</l><lb/>
              <l>Und mit jeder Entzu&#x0364;ckung in ihr, die &#x017F;ie ma&#x0364;chtig er&#x017F;chu&#x0364;ttert,</l><lb/>
              <l>Auf den großen Gedanken gerichtet: du &#x017F;ey&#x017F;t ihr ge&#x017F;chaffen!</l><lb/>
              <l>Ausgebreitet hieng u&#x0364;ber ihn hin; die &#x017F;chauende Seele<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Sah</fw><lb/></l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0146] Der Meßias. Welchen Himmel erſchuf ſich mein Geiſt, wenn du, Cidli, mich liebteſt! Welche Gefilde der Ruh um mich her! O, darf ich noch einmal, Suͤßer Gedanke, dich denken? Und wird dich mein Schmerz nicht entweihẽ? Du warſt, Goͤttliche, mein! Durch keine kuͤrzere Dauer, Als durch die Ewigkeit, mein! Das nannt ich, fuͤr mich geſchaffen! Jeder Tugend erhabenen Wink, der mir unſichtbar ſonſt war, Lernt ich durch deine Liebe verſtehn! Mit zitternder Sorgfalt Folgte mein Herz dem gebietenden Winke. Die Stimme der Pflichten Hoͤrt ich von fern! Jhr werdendes Lispeln, ihr Wandeln im Stillen, Jhren goͤttlichen Laut, wenn keiner ſie hoͤrte, vernahm ich! Und nicht umſonſt! Wie ein Kind voll Unſchuld, mit biegſamen Herzen, Folgt ich dem leichten Geſetz, der ſanft gebietenden Stimme, Daß ich deinen Beſitz, die du mir theurer, als alles, Was die Schoͤpfung hat, warſt, durch keinen Fehltritt entweihte. Gott ſelbſt liebt ich noch mehr, weil du ſein hohes Geſchenk warſt; Weil ich, wie auf Fluͤgeln, von deiner Unſchuld getragen, Naͤher dem Liebenswuͤrdigen kam, der ſo ſchoͤn dich gebildet, Der ſo fuͤhlend mein Herz, und deins ſo himmliſch gemacht hat. Wie, ganz in Entzuͤckungen aufgeloͤſt, deine Mutter, Da du gebohren warſt, uͤber dir hieng, und wie ſie ſich neigte Ueber dein Antlitz mit Todesangſt hin, da du ihrer Umarmung Still entſchlummerteſt, und ſie den Schall der kommenden Fuͤße Noch nicht vernahm, noch die lockende Stimme des Helfers in Juda: So hat meine Seele ſich oft mit jeder Empfindung Und mit jeder Entzuͤckung in ihr, die ſie maͤchtig erſchuͤttert, Auf den großen Gedanken gerichtet: du ſeyſt ihr geſchaffen! Ausgebreitet hieng uͤber ihn hin; die ſchauende Seele Sah

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/146
Zitationshilfe: [Klopstock, Friedrich Gottlieb]: Der Messias. Bd. 1. Halle, 1751, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_messias01_1751/146>, abgerufen am 22.11.2024.