Auch in der Musik entdekt man nach und nach. Wenn sie ohne Worte reden will; so ist ihr Ausdruk sehr unvollkommen, und das nicht allein deswegen, weil er allgemein ist, und keine einzelne Gegenstände bezeichnet, sondern auch, weil er noch dazu nur we- nig Allgemeinheiten hat.
Die Musik, welche Worte ausdrükt, oder die ei- gentliche Musik ist Declamation. Denn hört sie etwa dadurch auf dieses zu seyn, weil sie die schönste Declamation ist, die man sich nur denken kann! Sie hat eben so Unrecht, wenn sie sich über das Ge- dicht, das sie declamirt, erhebt, als wenn sie unter demselben ist. Denn dieß Gedicht, und kein an- deres, völlig angemessen auszudrücken, davon war ja hier die Rede; und ganz und gar nicht davon, überhaupt zu zeigen, wie gut man declamiren könne.
Aber so wäre ja die Musik unter der Dichtkunst! Haben sich denn die Grazien jemals geschämt, der Venus den Gürtel anzulegen?
Vorschlag zu einer Poetik, deren Regeln sich auf die Erfahrung gründen. Wir werden die Natur unsrer Seele nie so tief ergründen, um mit Gewisheit sagen zu können, diese oder jene poetisch[e] Schönheit muß diese oder eine andre Wirkung (Wir- kung wird hier in ihrem ganzen Umfange, und mit allen ihren Bestimmungen genommen) notwendig hervorbringen. Gleichwol sind die meisten Regeln in fast allen Theorien der Dichtkunst so beschaffen, daß sie, ohne Voraussezung jener notwendigen Wirkung, unverweislich bleiben. Jch halte mich nicht dabey auf, was dieses Gemisch unerwiesener, theils fal- scher, und theils zufällig, und wie im Blinden er- tapter halbwahrer Regeln auf Dichter, und Leser für schlimme Einflüsse gehabt habe. Meine Frage
ist
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Auch in der Muſik entdekt man nach und nach. Wenn ſie ohne Worte reden will; ſo iſt ihr Ausdruk ſehr unvollkommen, und das nicht allein deswegen, weil er allgemein iſt, und keine einzelne Gegenſtaͤnde bezeichnet, ſondern auch, weil er noch dazu nur we- nig Allgemeinheiten hat.
Die Muſik, welche Worte ausdruͤkt, oder die ei- gentliche Muſik iſt Declamation. Denn hoͤrt ſie etwa dadurch auf dieſes zu ſeyn, weil ſie die ſchoͤnſte Declamation iſt, die man ſich nur denken kann! Sie hat eben ſo Unrecht, wenn ſie ſich uͤber das Ge- dicht, das ſie declamirt, erhebt, als wenn ſie unter demſelben iſt. Denn dieß Gedicht, und kein an- deres, voͤllig angemeſſen auszudruͤcken, davon war ja hier die Rede; und ganz und gar nicht davon, uͤberhaupt zu zeigen, wie gut man declamiren koͤnne.
Aber ſo waͤre ja die Muſik unter der Dichtkunſt! Haben ſich denn die Grazien jemals geſchaͤmt, der Venus den Guͤrtel anzulegen?
Vorſchlag zu einer Poetik, deren Regeln ſich auf die Erfahrung gruͤnden. Wir werden die Natur unſrer Seele nie ſo tief ergruͤnden, um mit Gewisheit ſagen zu koͤnnen, dieſe oder jene poetiſch[e] Schoͤnheit muß dieſe oder eine andre Wirkung (Wir- kung wird hier in ihrem ganzen Umfange, und mit allen ihren Beſtimmungen genommen) notwendig hervorbringen. Gleichwol ſind die meiſten Regeln in faſt allen Theorien der Dichtkunſt ſo beſchaffen, daß ſie, ohne Vorausſezung jener notwendigen Wirkung, unverweislich bleiben. Jch halte mich nicht dabey auf, was dieſes Gemiſch unerwieſener, theils fal- ſcher, und theils zufaͤllig, und wie im Blinden er- tapter halbwahrer Regeln auf Dichter, und Leſer fuͤr ſchlimme Einfluͤſſe gehabt habe. Meine Frage
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Auch in der Muſik entdekt man nach und nach.
Wenn ſie ohne Worte reden will; ſo iſt ihr Ausdruk
ſehr unvollkommen, und das nicht allein deswegen,
weil er allgemein iſt, und keine einzelne Gegenſtaͤnde
bezeichnet, ſondern auch, weil er noch dazu nur we-
nig Allgemeinheiten hat.
Die Muſik, welche Worte ausdruͤkt, oder die ei-
gentliche Muſik iſt Declamation. Denn hoͤrt ſie
etwa dadurch auf dieſes zu ſeyn, weil ſie die ſchoͤnſte
Declamation iſt, die man ſich nur denken kann!
Sie hat eben ſo Unrecht, wenn ſie ſich uͤber das Ge-
dicht, das ſie declamirt, erhebt, als wenn ſie unter
demſelben iſt. Denn dieß Gedicht, und kein an-
deres, voͤllig angemeſſen auszudruͤcken, davon war
ja hier die Rede; und ganz und gar nicht davon,
uͤberhaupt zu zeigen, wie gut man declamiren koͤnne.
Aber ſo waͤre ja die Muſik unter der Dichtkunſt!
Haben ſich denn die Grazien jemals geſchaͤmt, der
Venus den Guͤrtel anzulegen?
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Natur unſrer Seele nie ſo tief ergruͤnden, um mit
Gewisheit ſagen zu koͤnnen, dieſe oder jene poetiſche
Schoͤnheit muß dieſe oder eine andre Wirkung (Wir-
kung wird hier in ihrem ganzen Umfange, und mit
allen ihren Beſtimmungen genommen) notwendig
hervorbringen. Gleichwol ſind die meiſten Regeln in
faſt allen Theorien der Dichtkunſt ſo beſchaffen, daß ſie,
ohne Vorausſezung jener notwendigen Wirkung,
unverweislich bleiben. Jch halte mich nicht dabey
auf, was dieſes Gemiſch unerwieſener, theils fal-
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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Deutsche Gelehrtenrepublik. Hamburg, 1774, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klopstock_gelehrtenrepublik_1774/399>, abgerufen am 22.11.2024.
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