Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805.

Bild:
<< vorherige Seite

rasch, und die weiße Rose blühete zum ersten-
male roth und glühend auf, und die Liebe be-
lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die
Abendsonne brannte durch Laub und Blüthen,
und Ines schob kindlich schuldlos den Wan-
genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das sie an-
strahlte: dann ergriff sie bebend die Harfe, und
wie Juan ihr Spiel mit der Flöte begleitete,
hub das verbotene Gespräch ohne Worte an,
und die Töne bekannten und erwiederten Liebe.
So bliebs bis Juan kühner wurde, die mysti-
sche Hieroglyphe verschmähete, und die schöne
geheimnißvolle Sünde in heller Rede offen-
barte. Da schwand die Dämmerung vor der
Unschuldigen, sie schien erst jezt wie durch ei-
nen feindlichen Fackelglanz alles um sich her
zu erkennen, und nannte zum erstenmale
schaudernd und erschrocken den Namen "Bru-
der!"

Die Sonne ging in demselben Augenblicke
unter, und das eben noch gefärbte Antliz war
schnell wieder blaß wie zuvor.


raſch, und die weiße Roſe bluͤhete zum erſten-
male roth und gluͤhend auf, und die Liebe be-
lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die
Abendſonne brannte durch Laub und Bluͤthen,
und Ines ſchob kindlich ſchuldlos den Wan-
genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das ſie an-
ſtrahlte: dann ergriff ſie bebend die Harfe, und
wie Juan ihr Spiel mit der Floͤte begleitete,
hub das verbotene Geſpraͤch ohne Worte an,
und die Toͤne bekannten und erwiederten Liebe.
So bliebs bis Juan kuͤhner wurde, die myſti-
ſche Hieroglyphe verſchmaͤhete, und die ſchoͤne
geheimnißvolle Suͤnde in heller Rede offen-
barte. Da ſchwand die Daͤmmerung vor der
Unſchuldigen, ſie ſchien erſt jezt wie durch ei-
nen feindlichen Fackelglanz alles um ſich her
zu erkennen, und nannte zum erſtenmale
ſchaudernd und erſchrocken den Namen „Bru-
der!“

Die Sonne ging in demſelben Augenblicke
unter, und das eben noch gefaͤrbte Antliz war
ſchnell wieder blaß wie zuvor.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0089" n="87"/>
ra&#x017F;ch, und die weiße Ro&#x017F;e blu&#x0364;hete zum er&#x017F;ten-<lb/>
male roth und glu&#x0364;hend auf, und die Liebe be-<lb/>
lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die<lb/>
Abend&#x017F;onne brannte durch Laub und Blu&#x0364;then,<lb/>
und Ines &#x017F;chob kindlich &#x017F;chuldlos den Wan-<lb/>
genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das &#x017F;ie an-<lb/>
&#x017F;trahlte: dann ergriff &#x017F;ie bebend die Harfe, und<lb/>
wie Juan ihr Spiel mit der Flo&#x0364;te begleitete,<lb/>
hub das verbotene Ge&#x017F;pra&#x0364;ch ohne Worte an,<lb/>
und die To&#x0364;ne bekannten und erwiederten Liebe.<lb/>
So bliebs bis Juan ku&#x0364;hner wurde, die my&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;che Hieroglyphe ver&#x017F;chma&#x0364;hete, und die &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
geheimnißvolle Su&#x0364;nde in heller Rede offen-<lb/>
barte. Da &#x017F;chwand die Da&#x0364;mmerung vor der<lb/>
Un&#x017F;chuldigen, &#x017F;ie &#x017F;chien er&#x017F;t jezt wie durch ei-<lb/>
nen feindlichen Fackelglanz alles um &#x017F;ich her<lb/>
zu erkennen, und nannte zum er&#x017F;tenmale<lb/>
&#x017F;chaudernd und er&#x017F;chrocken den Namen &#x201E;Bru-<lb/>
der!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die Sonne ging in dem&#x017F;elben Augenblicke<lb/>
unter, und das eben noch gefa&#x0364;rbte Antliz war<lb/>
&#x017F;chnell wieder blaß wie zuvor.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0089] raſch, und die weiße Roſe bluͤhete zum erſten- male roth und gluͤhend auf, und die Liebe be- lebte Pygmalions kaltes Wunderbild. Die Abendſonne brannte durch Laub und Bluͤthen, und Ines ſchob kindlich ſchuldlos den Wan- genpurpur dem Himmelsfeuer zu, das ſie an- ſtrahlte: dann ergriff ſie bebend die Harfe, und wie Juan ihr Spiel mit der Floͤte begleitete, hub das verbotene Geſpraͤch ohne Worte an, und die Toͤne bekannten und erwiederten Liebe. So bliebs bis Juan kuͤhner wurde, die myſti- ſche Hieroglyphe verſchmaͤhete, und die ſchoͤne geheimnißvolle Suͤnde in heller Rede offen- barte. Da ſchwand die Daͤmmerung vor der Unſchuldigen, ſie ſchien erſt jezt wie durch ei- nen feindlichen Fackelglanz alles um ſich her zu erkennen, und nannte zum erſtenmale ſchaudernd und erſchrocken den Namen „Bru- der!“ Die Sonne ging in demſelben Augenblicke unter, und das eben noch gefaͤrbte Antliz war ſchnell wieder blaß wie zuvor.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/89
Zitationshilfe: Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/89>, abgerufen am 22.11.2024.