wie alles, was sich blos in der Sprache und in Tönen umhertreibt, und es wäre mir im- mer noch erlaubt heimlich etwas anderes dabei zu denken -- aber der erste Kuß -- ich habe niemals geküßt, aus Abscheu gegen alle rüh- rende und zärtliche Heuchelei -- Unhold, wüßte ich daß du mich dazu verleiten könntest, ich böte meine letzte Kraft auf, und schüttelte dich von mir!
In solchen und dergleichen Fragmenten habe ich mich abgearbeitet, und mich ordentlich methodisch auszuschreiben gesucht, wie mancher Dichter, der seine Gefühle so lange auf dem Papiere von sich giebt, bis sie zuletzt alle ab- gegangen sind, und der Kerl selbst ganz aus- gebrannt und nüchtern dasteht.
Es schlug indeß alles fehl bei mir, ja die Symptome wurden immer kritischer, und ich fing gar an in mich vertieft umherzuwandern,
wie alles, was ſich blos in der Sprache und in Toͤnen umhertreibt, und es waͤre mir im- mer noch erlaubt heimlich etwas anderes dabei zu denken — aber der erſte Kuß — ich habe niemals gekuͤßt, aus Abſcheu gegen alle ruͤh- rende und zaͤrtliche Heuchelei — Unhold, wuͤßte ich daß du mich dazu verleiten koͤnnteſt, ich boͤte meine letzte Kraft auf, und ſchuͤttelte dich von mir!
In ſolchen und dergleichen Fragmenten habe ich mich abgearbeitet, und mich ordentlich methodiſch auszuſchreiben geſucht, wie mancher Dichter, der ſeine Gefuͤhle ſo lange auf dem Papiere von ſich giebt, bis ſie zuletzt alle ab- gegangen ſind, und der Kerl ſelbſt ganz aus- gebrannt und nuͤchtern daſteht.
Es ſchlug indeß alles fehl bei mir, ja die Symptome wurden immer kritiſcher, und ich fing gar an in mich vertieft umherzuwandern,
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wie alles, was ſich blos in der Sprache und
in Toͤnen umhertreibt, und es waͤre mir im-
mer noch erlaubt heimlich etwas anderes dabei
zu denken — aber der erſte Kuß — ich habe
niemals gekuͤßt, aus Abſcheu gegen alle ruͤh-
rende und zaͤrtliche Heuchelei — Unhold,
wuͤßte ich daß du mich dazu verleiten koͤnnteſt,
ich boͤte meine letzte Kraft auf, und ſchuͤttelte
dich von mir!
In ſolchen und dergleichen Fragmenten
habe ich mich abgearbeitet, und mich ordentlich
methodiſch auszuſchreiben geſucht, wie mancher
Dichter, der ſeine Gefuͤhle ſo lange auf dem
Papiere von ſich giebt, bis ſie zuletzt alle ab-
gegangen ſind, und der Kerl ſelbſt ganz aus-
gebrannt und nuͤchtern daſteht.
Es ſchlug indeß alles fehl bei mir, ja die
Symptome wurden immer kritiſcher, und ich
fing gar an in mich vertieft umherzuwandern,
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Klingemann, Ernst August Friedrich: Nachtwachen. Penig, 1805, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/klingemann_nachtwachen_1805/240>, abgerufen am 24.11.2024.
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