Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Mutter gekehrt: Weil du keine Augen und Ohren hast! Weil er die Gefahr, in der er schwebte, gar wohl begriff! Weil er entfliehen wollte; weil er mich gebeten hatte, ihm zu seiner Flucht behülflich zu sein; weil er einen Anschlag auf dein eigenes Leben gemacht hatte und sein Vorhaben bei Anbruch des Tages ohne Zweifel, wenn ich ihn nicht schlafend gebunden hätte, in Ausführung gebracht haben würde. -- Der Alte liebkosete und beruhigte das Mädchen und befahl Babekan, von dieser Sache zu schweigen. Er rief ein Paar Schützen mit Büchsen vor, um das Gesetz, dem der Fremdling verfallen war, augenblicklich an demselben zu vollstrecken; aber Babekan flüsterte ihm heimlich zu: Nein, ums Himmels willen, Hoango! -- Sie nahm ihn auf die Seite und bedeutete ihm, der Fremde müsse, bevor er hingerichtet werde, eine Einladung aufsetzen, um vermittelst derselben die Familie, deren Bekämpfung im Walde manchen Gefahren ausgesetzt sei, in die Pflanzung zu locken. -- Hoango, in Erwägung, daß die Familie wahrscheinlich nicht unbewaffnet sein werde, gab diesem Vorschlage seinen Beifall; er stellte, weil es zu spät war, den Brief verabredeter Maßen schreiben zu lassen, zwei Wachen bei dem weißen Flüchtling aus; und nachdem er noch der Sicherheit wegen die Stricke untersucht, auch, weil er sie zu locker befand, ein Paar Leute herbeigerufen hatte, um sie noch enger zusammenzuziehen, verließ er mit seinem ganzen Troß das Zimmer, und Alles nach und nach begab sich zur Ruh. Mutter gekehrt: Weil du keine Augen und Ohren hast! Weil er die Gefahr, in der er schwebte, gar wohl begriff! Weil er entfliehen wollte; weil er mich gebeten hatte, ihm zu seiner Flucht behülflich zu sein; weil er einen Anschlag auf dein eigenes Leben gemacht hatte und sein Vorhaben bei Anbruch des Tages ohne Zweifel, wenn ich ihn nicht schlafend gebunden hätte, in Ausführung gebracht haben würde. — Der Alte liebkosete und beruhigte das Mädchen und befahl Babekan, von dieser Sache zu schweigen. Er rief ein Paar Schützen mit Büchsen vor, um das Gesetz, dem der Fremdling verfallen war, augenblicklich an demselben zu vollstrecken; aber Babekan flüsterte ihm heimlich zu: Nein, ums Himmels willen, Hoango! — Sie nahm ihn auf die Seite und bedeutete ihm, der Fremde müsse, bevor er hingerichtet werde, eine Einladung aufsetzen, um vermittelst derselben die Familie, deren Bekämpfung im Walde manchen Gefahren ausgesetzt sei, in die Pflanzung zu locken. — Hoango, in Erwägung, daß die Familie wahrscheinlich nicht unbewaffnet sein werde, gab diesem Vorschlage seinen Beifall; er stellte, weil es zu spät war, den Brief verabredeter Maßen schreiben zu lassen, zwei Wachen bei dem weißen Flüchtling aus; und nachdem er noch der Sicherheit wegen die Stricke untersucht, auch, weil er sie zu locker befand, ein Paar Leute herbeigerufen hatte, um sie noch enger zusammenzuziehen, verließ er mit seinem ganzen Troß das Zimmer, und Alles nach und nach begab sich zur Ruh. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0051"/> Mutter gekehrt: Weil du keine Augen und Ohren hast! Weil er die Gefahr, in der er schwebte, gar wohl begriff! Weil er entfliehen wollte; weil er mich gebeten hatte, ihm zu seiner Flucht behülflich zu sein; weil er einen Anschlag auf dein eigenes Leben gemacht hatte und sein Vorhaben bei Anbruch des Tages ohne Zweifel, wenn ich ihn nicht schlafend gebunden hätte, in Ausführung gebracht haben würde. — Der Alte liebkosete und beruhigte das Mädchen und befahl Babekan, von dieser Sache zu schweigen. Er rief ein Paar Schützen mit Büchsen vor, um das Gesetz, dem der Fremdling verfallen war, augenblicklich an demselben zu vollstrecken; aber Babekan flüsterte ihm heimlich zu: Nein, ums Himmels willen, Hoango! — Sie nahm ihn auf die Seite und bedeutete ihm, der Fremde müsse, bevor er hingerichtet werde, eine Einladung aufsetzen, um vermittelst derselben die Familie, deren Bekämpfung im Walde manchen Gefahren ausgesetzt sei, in die Pflanzung zu locken. — Hoango, in Erwägung, daß die Familie wahrscheinlich nicht unbewaffnet sein werde, gab diesem Vorschlage seinen Beifall; er stellte, weil es zu spät war, den Brief verabredeter Maßen schreiben zu lassen, zwei Wachen bei dem weißen Flüchtling aus; und nachdem er noch der Sicherheit wegen die Stricke untersucht, auch, weil er sie zu locker befand, ein Paar Leute herbeigerufen hatte, um sie noch enger zusammenzuziehen, verließ er mit seinem ganzen Troß das Zimmer, und Alles nach und nach begab sich zur Ruh.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0051]
Mutter gekehrt: Weil du keine Augen und Ohren hast! Weil er die Gefahr, in der er schwebte, gar wohl begriff! Weil er entfliehen wollte; weil er mich gebeten hatte, ihm zu seiner Flucht behülflich zu sein; weil er einen Anschlag auf dein eigenes Leben gemacht hatte und sein Vorhaben bei Anbruch des Tages ohne Zweifel, wenn ich ihn nicht schlafend gebunden hätte, in Ausführung gebracht haben würde. — Der Alte liebkosete und beruhigte das Mädchen und befahl Babekan, von dieser Sache zu schweigen. Er rief ein Paar Schützen mit Büchsen vor, um das Gesetz, dem der Fremdling verfallen war, augenblicklich an demselben zu vollstrecken; aber Babekan flüsterte ihm heimlich zu: Nein, ums Himmels willen, Hoango! — Sie nahm ihn auf die Seite und bedeutete ihm, der Fremde müsse, bevor er hingerichtet werde, eine Einladung aufsetzen, um vermittelst derselben die Familie, deren Bekämpfung im Walde manchen Gefahren ausgesetzt sei, in die Pflanzung zu locken. — Hoango, in Erwägung, daß die Familie wahrscheinlich nicht unbewaffnet sein werde, gab diesem Vorschlage seinen Beifall; er stellte, weil es zu spät war, den Brief verabredeter Maßen schreiben zu lassen, zwei Wachen bei dem weißen Flüchtling aus; und nachdem er noch der Sicherheit wegen die Stricke untersucht, auch, weil er sie zu locker befand, ein Paar Leute herbeigerufen hatte, um sie noch enger zusammenzuziehen, verließ er mit seinem ganzen Troß das Zimmer, und Alles nach und nach begab sich zur Ruh.
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Zitationshilfe: | Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/51>, abgerufen am 06.07.2024. |