Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.treten; aber dann dieselbe auch so beschleunigen, daß du vor der Dämmerung des Tages hier eintriffst. Kann man sich auf dich verlassen? fragte sie. -- Verlaßt Euch auf Nanky! antwortete der Knabe: ich weiß, warum ihr diese weißen Flüchtlinge in die Pflanzung lockt, und der Neger Hoango soll mit mir zufrieden sein! Hierauf trug Toni dem Fremden das Frühstück auf; und nachdem es wieder abgenommen war, begaben sich Mutter und Tochter, ihrer häuslichen Geschäfte wegen, in das vordere Wohnzimmer zurück. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter einige Zeit darauf an den Schrank trat und, wie es natürlich war, den Brief vermißte. Sie legte die Hand, ungläubig gegen ihr Gedächtniß, einen Augenblick an den Kopf und fragte Toni, wo sie den Brief, den ihr der Fremde gegeben, wohl hingelegt haben könne. Toni antwortete nach einer kurzen Pause, in der sie auf den Boden niedersah, daß ihn der Fremde ja ihres Wissens wieder eingesteckt und oben im Zimmer in ihrer Beiden Gegenwart zerrissen habe! Die Mutter schaute das Mädchen mit großen Augen an; sie meinte sich bestimmt zu erinnern, daß sie den Brief aus seiner Hand empfangen und in den Schrank gelegt habe; doch da sie ihn nach vielem vergeblichen Suchen darin nicht fand und ihrem Gedächtniß mehrerer ähnlichen Vorfälle wegen mißtraute, so blieb ihr zuletzt Nichts übrig, als der Meinung, die ihr die Tochter geäußert, Glauben zu schenken. Inzwischen konnte sie ihr lebhaftes Mißvergnügen über diesen Umstand nicht unterdrücken, und treten; aber dann dieselbe auch so beschleunigen, daß du vor der Dämmerung des Tages hier eintriffst. Kann man sich auf dich verlassen? fragte sie. — Verlaßt Euch auf Nanky! antwortete der Knabe: ich weiß, warum ihr diese weißen Flüchtlinge in die Pflanzung lockt, und der Neger Hoango soll mit mir zufrieden sein! Hierauf trug Toni dem Fremden das Frühstück auf; und nachdem es wieder abgenommen war, begaben sich Mutter und Tochter, ihrer häuslichen Geschäfte wegen, in das vordere Wohnzimmer zurück. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter einige Zeit darauf an den Schrank trat und, wie es natürlich war, den Brief vermißte. Sie legte die Hand, ungläubig gegen ihr Gedächtniß, einen Augenblick an den Kopf und fragte Toni, wo sie den Brief, den ihr der Fremde gegeben, wohl hingelegt haben könne. Toni antwortete nach einer kurzen Pause, in der sie auf den Boden niedersah, daß ihn der Fremde ja ihres Wissens wieder eingesteckt und oben im Zimmer in ihrer Beiden Gegenwart zerrissen habe! Die Mutter schaute das Mädchen mit großen Augen an; sie meinte sich bestimmt zu erinnern, daß sie den Brief aus seiner Hand empfangen und in den Schrank gelegt habe; doch da sie ihn nach vielem vergeblichen Suchen darin nicht fand und ihrem Gedächtniß mehrerer ähnlichen Vorfälle wegen mißtraute, so blieb ihr zuletzt Nichts übrig, als der Meinung, die ihr die Tochter geäußert, Glauben zu schenken. Inzwischen konnte sie ihr lebhaftes Mißvergnügen über diesen Umstand nicht unterdrücken, und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044"/> treten; aber dann dieselbe auch so beschleunigen, daß du vor der Dämmerung des Tages hier eintriffst. Kann man sich auf dich verlassen? fragte sie. — Verlaßt Euch auf Nanky! antwortete der Knabe: ich weiß, warum ihr diese weißen Flüchtlinge in die Pflanzung lockt, und der Neger Hoango soll mit mir zufrieden sein!</p><lb/> <p>Hierauf trug Toni dem Fremden das Frühstück auf; und nachdem es wieder abgenommen war, begaben sich Mutter und Tochter, ihrer häuslichen Geschäfte wegen, in das vordere Wohnzimmer zurück. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter einige Zeit darauf an den Schrank trat und, wie es natürlich war, den Brief vermißte. Sie legte die Hand, ungläubig gegen ihr Gedächtniß, einen Augenblick an den Kopf und fragte Toni, wo sie den Brief, den ihr der Fremde gegeben, wohl hingelegt haben könne. Toni antwortete nach einer kurzen Pause, in der sie auf den Boden niedersah, daß ihn der Fremde ja ihres Wissens wieder eingesteckt und oben im Zimmer in ihrer Beiden Gegenwart zerrissen habe! Die Mutter schaute das Mädchen mit großen Augen an; sie meinte sich bestimmt zu erinnern, daß sie den Brief aus seiner Hand empfangen und in den Schrank gelegt habe; doch da sie ihn nach vielem vergeblichen Suchen darin nicht fand und ihrem Gedächtniß mehrerer ähnlichen Vorfälle wegen mißtraute, so blieb ihr zuletzt Nichts übrig, als der Meinung, die ihr die Tochter geäußert, Glauben zu schenken. Inzwischen konnte sie ihr lebhaftes Mißvergnügen über diesen Umstand nicht unterdrücken, und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
treten; aber dann dieselbe auch so beschleunigen, daß du vor der Dämmerung des Tages hier eintriffst. Kann man sich auf dich verlassen? fragte sie. — Verlaßt Euch auf Nanky! antwortete der Knabe: ich weiß, warum ihr diese weißen Flüchtlinge in die Pflanzung lockt, und der Neger Hoango soll mit mir zufrieden sein!
Hierauf trug Toni dem Fremden das Frühstück auf; und nachdem es wieder abgenommen war, begaben sich Mutter und Tochter, ihrer häuslichen Geschäfte wegen, in das vordere Wohnzimmer zurück. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter einige Zeit darauf an den Schrank trat und, wie es natürlich war, den Brief vermißte. Sie legte die Hand, ungläubig gegen ihr Gedächtniß, einen Augenblick an den Kopf und fragte Toni, wo sie den Brief, den ihr der Fremde gegeben, wohl hingelegt haben könne. Toni antwortete nach einer kurzen Pause, in der sie auf den Boden niedersah, daß ihn der Fremde ja ihres Wissens wieder eingesteckt und oben im Zimmer in ihrer Beiden Gegenwart zerrissen habe! Die Mutter schaute das Mädchen mit großen Augen an; sie meinte sich bestimmt zu erinnern, daß sie den Brief aus seiner Hand empfangen und in den Schrank gelegt habe; doch da sie ihn nach vielem vergeblichen Suchen darin nicht fand und ihrem Gedächtniß mehrerer ähnlichen Vorfälle wegen mißtraute, so blieb ihr zuletzt Nichts übrig, als der Meinung, die ihr die Tochter geäußert, Glauben zu schenken. Inzwischen konnte sie ihr lebhaftes Mißvergnügen über diesen Umstand nicht unterdrücken, und
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Zitationshilfe: | Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/44>, abgerufen am 02.03.2025. |