Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.aus dem Schlupfwinkel, in welchen ich mich geflüchtet hatte, hervortrat und, indem ich die Menge durchbrechend nach dem Richtplatz eilte, laut ausrief: Hier, ihr Unmenschlichen, hier bin ich! Doch sie, die schon auf dem Gerüste der Guillotine stand, antwortete auf die Frage einiger Richter, denen ich unglücklicher Weise fremd sein mußte, indem sie sich mit einem Blick, der mir unauslöschlich in die Seele geprägt ist, von mir abwandte: diesen Menschen kenne ich nicht! -- woraus unter Trommeln und Lärmen, von den ungeduldigen Blutmenschen angezettelt, das Eisen wenige Augenblicke nachher herabfiel und ihr Haupt von seinem Rumpfe trennte. Wie ich gerettet worden bin, das weiß ich nicht; ich befand mich eine Viertelstunde darauf in der Wohnung eines Freundes, wo ich aus einer Ohnmacht in die andere fiel und halbwahnwitzig gegen Abend auf einen Wagen geladen und über den Rhein geschafft wurde. -- Bei diesen Worten trat der Fremde, indem er das Mädchen losließ, an das Fenster; und da diese sah, daß er sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte, so übernahm sie, von manchen Seiten geweckt, ein menschliches Gefühl; sie folgte ihm mit einer plötzlichen Bewegung, fiel ihm um den Hals und mischte ihre Thränen mit den seinigen. Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies't. Der Fremde, als er sich wieder gesammelt hatte, wußte nicht, wohin ihn die That, die er begangen, führen würde; aus dem Schlupfwinkel, in welchen ich mich geflüchtet hatte, hervortrat und, indem ich die Menge durchbrechend nach dem Richtplatz eilte, laut ausrief: Hier, ihr Unmenschlichen, hier bin ich! Doch sie, die schon auf dem Gerüste der Guillotine stand, antwortete auf die Frage einiger Richter, denen ich unglücklicher Weise fremd sein mußte, indem sie sich mit einem Blick, der mir unauslöschlich in die Seele geprägt ist, von mir abwandte: diesen Menschen kenne ich nicht! — woraus unter Trommeln und Lärmen, von den ungeduldigen Blutmenschen angezettelt, das Eisen wenige Augenblicke nachher herabfiel und ihr Haupt von seinem Rumpfe trennte. Wie ich gerettet worden bin, das weiß ich nicht; ich befand mich eine Viertelstunde darauf in der Wohnung eines Freundes, wo ich aus einer Ohnmacht in die andere fiel und halbwahnwitzig gegen Abend auf einen Wagen geladen und über den Rhein geschafft wurde. — Bei diesen Worten trat der Fremde, indem er das Mädchen losließ, an das Fenster; und da diese sah, daß er sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte, so übernahm sie, von manchen Seiten geweckt, ein menschliches Gefühl; sie folgte ihm mit einer plötzlichen Bewegung, fiel ihm um den Hals und mischte ihre Thränen mit den seinigen. Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies't. Der Fremde, als er sich wieder gesammelt hatte, wußte nicht, wohin ihn die That, die er begangen, führen würde; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0032"/> aus dem Schlupfwinkel, in welchen ich mich geflüchtet hatte, hervortrat und, indem ich die Menge durchbrechend nach dem Richtplatz eilte, laut ausrief: Hier, ihr Unmenschlichen, hier bin ich! Doch sie, die schon auf dem Gerüste der Guillotine stand, antwortete auf die Frage einiger Richter, denen ich unglücklicher Weise fremd sein mußte, indem sie sich mit einem Blick, der mir unauslöschlich in die Seele geprägt ist, von mir abwandte: diesen Menschen kenne ich nicht! — woraus unter Trommeln und Lärmen, von den ungeduldigen Blutmenschen angezettelt, das Eisen wenige Augenblicke nachher herabfiel und ihr Haupt von seinem Rumpfe trennte. Wie ich gerettet worden bin, das weiß ich nicht; ich befand mich eine Viertelstunde darauf in der Wohnung eines Freundes, wo ich aus einer Ohnmacht in die andere fiel und halbwahnwitzig gegen Abend auf einen Wagen geladen und über den Rhein geschafft wurde. — Bei diesen Worten trat der Fremde, indem er das Mädchen losließ, an das Fenster; und da diese sah, daß er sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte, so übernahm sie, von manchen Seiten geweckt, ein menschliches Gefühl; sie folgte ihm mit einer plötzlichen Bewegung, fiel ihm um den Hals und mischte ihre Thränen mit den seinigen.</p><lb/> <p>Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies't. Der Fremde, als er sich wieder gesammelt hatte, wußte nicht, wohin ihn die That, die er begangen, führen würde;<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0032]
aus dem Schlupfwinkel, in welchen ich mich geflüchtet hatte, hervortrat und, indem ich die Menge durchbrechend nach dem Richtplatz eilte, laut ausrief: Hier, ihr Unmenschlichen, hier bin ich! Doch sie, die schon auf dem Gerüste der Guillotine stand, antwortete auf die Frage einiger Richter, denen ich unglücklicher Weise fremd sein mußte, indem sie sich mit einem Blick, der mir unauslöschlich in die Seele geprägt ist, von mir abwandte: diesen Menschen kenne ich nicht! — woraus unter Trommeln und Lärmen, von den ungeduldigen Blutmenschen angezettelt, das Eisen wenige Augenblicke nachher herabfiel und ihr Haupt von seinem Rumpfe trennte. Wie ich gerettet worden bin, das weiß ich nicht; ich befand mich eine Viertelstunde darauf in der Wohnung eines Freundes, wo ich aus einer Ohnmacht in die andere fiel und halbwahnwitzig gegen Abend auf einen Wagen geladen und über den Rhein geschafft wurde. — Bei diesen Worten trat der Fremde, indem er das Mädchen losließ, an das Fenster; und da diese sah, daß er sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte, so übernahm sie, von manchen Seiten geweckt, ein menschliches Gefühl; sie folgte ihm mit einer plötzlichen Bewegung, fiel ihm um den Hals und mischte ihre Thränen mit den seinigen.
Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies't. Der Fremde, als er sich wieder gesammelt hatte, wußte nicht, wohin ihn die That, die er begangen, führen würde;
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Zitationshilfe: | Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/32>, abgerufen am 06.07.2024. |