Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

war Mariane Congreve und ihre Vaterstadt Straßburg. Ich hatte sie in dieser Stadt, wo ihr Vater Kaufmann war, kurz vor dem Ausbruch der Revolution kennen gelernt und war glücklich genug gewesen, ihr Jawort und vorläufig auch ihrer Mutter Zustimmung zu erhalten. Ach, es war die treueste Seele unter der Sonne; und die schrecklichen und rührenden Umstände, unter denen ich sie verlor, werden mir, wenn ich dich ansehe, so gegenwärtig, daß ich mich vor Wehmuth der Thränen nicht enthalten kann. -- Wie, sagte Toni, indem sie sich herzlich und innig an ihn drückte, sie lebt nicht mehr? -- Sie starb, antwortete der Fremde, und ich lernte den Inbegriff aller Güte und Vortrefflichkeit erst mit ihrem Tode kennen. Gott weiß, fuhr er fort, indem er sein Haupt schmerzlich an ihre Schulter lehnte, wie ich die Unbesonnenheit so weit treiben konnte, mir eines Abends an einem öffentlichen Ort Aeußerungen über das eben errichtete furchtbare Revolutionstribunal zu erlauben. Man verklagte, man suchte mich; ja in Ermanglung meiner, der glücklich genug gewesen war, sich in die Vorstadt zu retten, lief die Rotte meiner rasenden Verfolger, die ein Opfer haben mußte, nach der Wohnung meiner Braut, und durch ihre wahrhaftige Versicherung, daß sie nicht wisse, wo ich sei, erbittert, schleppte man dieselbe unter dem Vorwande, daß sie mit mir im Einverständniß sei, mit unerhörter Leichtfertigkeit statt meiner auf den Richtplatz. Kaum war mir diese entsetzliche Nachricht hinterbracht worden, als ich sogleich

war Mariane Congreve und ihre Vaterstadt Straßburg. Ich hatte sie in dieser Stadt, wo ihr Vater Kaufmann war, kurz vor dem Ausbruch der Revolution kennen gelernt und war glücklich genug gewesen, ihr Jawort und vorläufig auch ihrer Mutter Zustimmung zu erhalten. Ach, es war die treueste Seele unter der Sonne; und die schrecklichen und rührenden Umstände, unter denen ich sie verlor, werden mir, wenn ich dich ansehe, so gegenwärtig, daß ich mich vor Wehmuth der Thränen nicht enthalten kann. — Wie, sagte Toni, indem sie sich herzlich und innig an ihn drückte, sie lebt nicht mehr? — Sie starb, antwortete der Fremde, und ich lernte den Inbegriff aller Güte und Vortrefflichkeit erst mit ihrem Tode kennen. Gott weiß, fuhr er fort, indem er sein Haupt schmerzlich an ihre Schulter lehnte, wie ich die Unbesonnenheit so weit treiben konnte, mir eines Abends an einem öffentlichen Ort Aeußerungen über das eben errichtete furchtbare Revolutionstribunal zu erlauben. Man verklagte, man suchte mich; ja in Ermanglung meiner, der glücklich genug gewesen war, sich in die Vorstadt zu retten, lief die Rotte meiner rasenden Verfolger, die ein Opfer haben mußte, nach der Wohnung meiner Braut, und durch ihre wahrhaftige Versicherung, daß sie nicht wisse, wo ich sei, erbittert, schleppte man dieselbe unter dem Vorwande, daß sie mit mir im Einverständniß sei, mit unerhörter Leichtfertigkeit statt meiner auf den Richtplatz. Kaum war mir diese entsetzliche Nachricht hinterbracht worden, als ich sogleich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0031"/>
war Mariane Congreve und ihre Vaterstadt Straßburg. Ich                hatte sie in dieser Stadt, wo ihr Vater Kaufmann war, kurz vor dem Ausbruch der                Revolution kennen gelernt und war glücklich genug gewesen, ihr Jawort und vorläufig                auch ihrer Mutter Zustimmung zu erhalten. Ach, es war die treueste Seele unter der                Sonne; und die schrecklichen und rührenden Umstände, unter denen ich sie verlor,                werden mir, wenn ich dich ansehe, so gegenwärtig, daß ich mich vor Wehmuth der                Thränen nicht enthalten kann. &#x2014; Wie, sagte Toni, indem sie sich herzlich und innig an                ihn drückte, sie lebt nicht mehr? &#x2014; Sie starb, antwortete der Fremde, und ich lernte                den Inbegriff aller Güte und Vortrefflichkeit erst mit ihrem Tode kennen. Gott weiß,                fuhr er fort, indem er sein Haupt schmerzlich an ihre Schulter lehnte, wie ich die                Unbesonnenheit so weit treiben konnte, mir eines Abends an einem öffentlichen Ort                Aeußerungen über das eben errichtete furchtbare Revolutionstribunal zu erlauben. Man                verklagte, man suchte mich; ja in Ermanglung meiner, der glücklich genug gewesen war,                sich in die Vorstadt zu retten, lief die Rotte meiner rasenden Verfolger, die ein                Opfer haben mußte, nach der Wohnung meiner Braut, und durch ihre wahrhaftige                Versicherung, daß sie nicht wisse, wo ich sei, erbittert, schleppte man dieselbe                unter dem Vorwande, daß sie mit mir im Einverständniß sei, mit unerhörter                Leichtfertigkeit statt meiner auf den Richtplatz. Kaum war mir diese entsetzliche                Nachricht hinterbracht worden, als ich sogleich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0031] war Mariane Congreve und ihre Vaterstadt Straßburg. Ich hatte sie in dieser Stadt, wo ihr Vater Kaufmann war, kurz vor dem Ausbruch der Revolution kennen gelernt und war glücklich genug gewesen, ihr Jawort und vorläufig auch ihrer Mutter Zustimmung zu erhalten. Ach, es war die treueste Seele unter der Sonne; und die schrecklichen und rührenden Umstände, unter denen ich sie verlor, werden mir, wenn ich dich ansehe, so gegenwärtig, daß ich mich vor Wehmuth der Thränen nicht enthalten kann. — Wie, sagte Toni, indem sie sich herzlich und innig an ihn drückte, sie lebt nicht mehr? — Sie starb, antwortete der Fremde, und ich lernte den Inbegriff aller Güte und Vortrefflichkeit erst mit ihrem Tode kennen. Gott weiß, fuhr er fort, indem er sein Haupt schmerzlich an ihre Schulter lehnte, wie ich die Unbesonnenheit so weit treiben konnte, mir eines Abends an einem öffentlichen Ort Aeußerungen über das eben errichtete furchtbare Revolutionstribunal zu erlauben. Man verklagte, man suchte mich; ja in Ermanglung meiner, der glücklich genug gewesen war, sich in die Vorstadt zu retten, lief die Rotte meiner rasenden Verfolger, die ein Opfer haben mußte, nach der Wohnung meiner Braut, und durch ihre wahrhaftige Versicherung, daß sie nicht wisse, wo ich sei, erbittert, schleppte man dieselbe unter dem Vorwande, daß sie mit mir im Einverständniß sei, mit unerhörter Leichtfertigkeit statt meiner auf den Richtplatz. Kaum war mir diese entsetzliche Nachricht hinterbracht worden, als ich sogleich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:20:21Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:20:21Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/31
Zitationshilfe: Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/31>, abgerufen am 24.11.2024.