Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.erreicht, des Fremden Hand und führte ihn die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Mutter. Nun, sagte die Alte, welche das ganze Gespräch von dem Fenster herab mit angehört und bei dem Schein des Lichtes bemerkt hatte, daß er ein Offizier war: was bedeutet der Degen, den Ihr so schlagfertig unter Eurem Arme tragt? Wir haben Euch, setzte sie hinzu, indem sie sich die Brille aufdrückte, mit Gefahr unseres Lebens eine Zuflucht in unserm Hause gestattet; seid Ihr hereingekommen, um diese Wohlthat nach der Sitte Eurer Landsleute mit Verrätherei zu vergelten? -- Behüte der Himmel! erwiderte der Fremde, der dicht vor ihren Sessel getreten war. Er ergriff die Hand der Alten, drückte sie an sein Herz, und indem er nach einigen im Zimmer schüchtern umhergeworfenen Blicken den Degen, den er an der Hüfte trug, abschnallte, sprach er: Ihr seht den elendesten der Menschen, aber keinen undankbaren und schlechten vor Euch! -- Wer seid Ihr? fragte die Alte, und damit schob sie ihm mit dem Fuße einen Stuhl hin und befahl dem Mädchen in die Küche zu gehen und ihm, so gut es sich in der Eile thun ließ, ein Abendbrod zu bereiten. Der Fremde erwiderte: ich bin ein Offizier von der französischen Macht, obschon, wie Ihr wohl selbst urtheilt, kein Franzose; mein Vaterland ist die Schweiz und mein Name Gustav von der Ried. Ach, hätte ich es niemals verlassen und gegen dies unselige Eiland vertauscht! Ich komme von Fort Dauphin, wo, wie Ihr wißt, alle Weißen ermordet worden sind, und erreicht, des Fremden Hand und führte ihn die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Mutter. Nun, sagte die Alte, welche das ganze Gespräch von dem Fenster herab mit angehört und bei dem Schein des Lichtes bemerkt hatte, daß er ein Offizier war: was bedeutet der Degen, den Ihr so schlagfertig unter Eurem Arme tragt? Wir haben Euch, setzte sie hinzu, indem sie sich die Brille aufdrückte, mit Gefahr unseres Lebens eine Zuflucht in unserm Hause gestattet; seid Ihr hereingekommen, um diese Wohlthat nach der Sitte Eurer Landsleute mit Verrätherei zu vergelten? — Behüte der Himmel! erwiderte der Fremde, der dicht vor ihren Sessel getreten war. Er ergriff die Hand der Alten, drückte sie an sein Herz, und indem er nach einigen im Zimmer schüchtern umhergeworfenen Blicken den Degen, den er an der Hüfte trug, abschnallte, sprach er: Ihr seht den elendesten der Menschen, aber keinen undankbaren und schlechten vor Euch! — Wer seid Ihr? fragte die Alte, und damit schob sie ihm mit dem Fuße einen Stuhl hin und befahl dem Mädchen in die Küche zu gehen und ihm, so gut es sich in der Eile thun ließ, ein Abendbrod zu bereiten. Der Fremde erwiderte: ich bin ein Offizier von der französischen Macht, obschon, wie Ihr wohl selbst urtheilt, kein Franzose; mein Vaterland ist die Schweiz und mein Name Gustav von der Ried. Ach, hätte ich es niemals verlassen und gegen dies unselige Eiland vertauscht! Ich komme von Fort Dauphin, wo, wie Ihr wißt, alle Weißen ermordet worden sind, und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0015"/> erreicht, des Fremden Hand und führte ihn die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Mutter.</p><lb/> <p>Nun, sagte die Alte, welche das ganze Gespräch von dem Fenster herab mit angehört und bei dem Schein des Lichtes bemerkt hatte, daß er ein Offizier war: was bedeutet der Degen, den Ihr so schlagfertig unter Eurem Arme tragt? Wir haben Euch, setzte sie hinzu, indem sie sich die Brille aufdrückte, mit Gefahr unseres Lebens eine Zuflucht in unserm Hause gestattet; seid Ihr hereingekommen, um diese Wohlthat nach der Sitte Eurer Landsleute mit Verrätherei zu vergelten? — Behüte der Himmel! erwiderte der Fremde, der dicht vor ihren Sessel getreten war. Er ergriff die Hand der Alten, drückte sie an sein Herz, und indem er nach einigen im Zimmer schüchtern umhergeworfenen Blicken den Degen, den er an der Hüfte trug, abschnallte, sprach er: Ihr seht den elendesten der Menschen, aber keinen undankbaren und schlechten vor Euch! — Wer seid Ihr? fragte die Alte, und damit schob sie ihm mit dem Fuße einen Stuhl hin und befahl dem Mädchen in die Küche zu gehen und ihm, so gut es sich in der Eile thun ließ, ein Abendbrod zu bereiten. Der Fremde erwiderte: ich bin ein Offizier von der französischen Macht, obschon, wie Ihr wohl selbst urtheilt, kein Franzose; mein Vaterland ist die Schweiz und mein Name Gustav von der Ried. Ach, hätte ich es niemals verlassen und gegen dies unselige Eiland vertauscht! Ich komme von Fort Dauphin, wo, wie Ihr wißt, alle Weißen ermordet worden sind, und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
erreicht, des Fremden Hand und führte ihn die Treppe hinauf nach dem Zimmer ihrer Mutter.
Nun, sagte die Alte, welche das ganze Gespräch von dem Fenster herab mit angehört und bei dem Schein des Lichtes bemerkt hatte, daß er ein Offizier war: was bedeutet der Degen, den Ihr so schlagfertig unter Eurem Arme tragt? Wir haben Euch, setzte sie hinzu, indem sie sich die Brille aufdrückte, mit Gefahr unseres Lebens eine Zuflucht in unserm Hause gestattet; seid Ihr hereingekommen, um diese Wohlthat nach der Sitte Eurer Landsleute mit Verrätherei zu vergelten? — Behüte der Himmel! erwiderte der Fremde, der dicht vor ihren Sessel getreten war. Er ergriff die Hand der Alten, drückte sie an sein Herz, und indem er nach einigen im Zimmer schüchtern umhergeworfenen Blicken den Degen, den er an der Hüfte trug, abschnallte, sprach er: Ihr seht den elendesten der Menschen, aber keinen undankbaren und schlechten vor Euch! — Wer seid Ihr? fragte die Alte, und damit schob sie ihm mit dem Fuße einen Stuhl hin und befahl dem Mädchen in die Küche zu gehen und ihm, so gut es sich in der Eile thun ließ, ein Abendbrod zu bereiten. Der Fremde erwiderte: ich bin ein Offizier von der französischen Macht, obschon, wie Ihr wohl selbst urtheilt, kein Franzose; mein Vaterland ist die Schweiz und mein Name Gustav von der Ried. Ach, hätte ich es niemals verlassen und gegen dies unselige Eiland vertauscht! Ich komme von Fort Dauphin, wo, wie Ihr wißt, alle Weißen ermordet worden sind, und
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Zitationshilfe: | Kleist, Heinrich von: Die Verlobung von St. Domingo. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [45]–105. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_verlobung_1910/15>, abgerufen am 16.02.2025. |