Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810. Rosalie. Hab ich es dir nicht gesagt? Brigitte. Nun, bei meiner Treu, so kann ich mich ins Grab legen: der Traum des Grafen vom Strahl ist aus! Kunigunde. Welch ein Traum? Rosalie. Hört nur, hört! Es ist die wunderlichste Ge- schichte von der Welt! -- -- Aber sei bündig, Müt- terchen, und spare den Eingang; denn die Zeit, wie ich dir schon gesagt, ist kurz. Brigitte. Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jah- res, nach einer seltsamen Schwermuth, von welcher kein Mensch die Ursache ergründen konnte, erkrankt; matt lag er da, mit glutrothem Antlitz und phanta- sirte; die Aerzte, die ihre Mittel erschöpft hatten, sprachen, er sei nicht zu retten. Alles, was in seinem Herzen verschlossen war, lag nun, im Wahnsin des Fiebers, auf seiner Zunge: er scheide gern, sprach er von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, sei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe sei Tod; die Welt nannt' er ein Grab, und das Grab eine Wiege, und meinte, er würde nun erst gebohren wer- Roſalie. Hab ich es dir nicht geſagt? Brigitte. Nun, bei meiner Treu, ſo kann ich mich ins Grab legen: der Traum des Grafen vom Strahl iſt aus! Kunigunde. Welch ein Traum? Roſalie. Hört nur, hört! Es iſt die wunderlichſte Ge- ſchichte von der Welt! — — Aber ſei bündig, Müt- terchen, und ſpare den Eingang; denn die Zeit, wie ich dir ſchon geſagt, iſt kurz. Brigitte. Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jah- res, nach einer ſeltſamen Schwermuth, von welcher kein Menſch die Urſache ergründen konnte, erkrankt; matt lag er da, mit glutrothem Antlitz und phanta- ſirte; die Aerzte, die ihre Mittel erſchöpft hatten, ſprachen, er ſei nicht zu retten. Alles, was in ſeinem Herzen verſchloſſen war, lag nun, im Wahnſin des Fiebers, auf ſeiner Zunge: er ſcheide gern, ſprach er von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu lieben, ſei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe ſei Tod; die Welt nannt' er ein Grab, und das Grab eine Wiege, und meinte, er würde nun erſt gebohren wer- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0085" n="79"/> <sp who="#ROS"> <speaker><hi rendition="#g">Roſalie</hi>.</speaker><lb/> <p>Hab ich es dir nicht geſagt?</p> </sp><lb/> <sp who="#BRI"> <speaker><hi rendition="#g">Brigitte</hi>.</speaker><lb/> <p>Nun, bei meiner Treu, ſo kann ich mich ins<lb/> Grab legen: der Traum des Grafen vom Strahl<lb/> iſt aus!</p> </sp><lb/> <sp who="#KUN"> <speaker><hi rendition="#g">Kunigunde</hi>.</speaker><lb/> <p>Welch ein Traum?</p> </sp><lb/> <sp who="#ROS"> <speaker><hi rendition="#g">Roſalie</hi>.</speaker><lb/> <p>Hört nur, hört! Es iſt die wunderlichſte Ge-<lb/> ſchichte von der Welt! — — Aber ſei bündig, Müt-<lb/> terchen, und ſpare den Eingang; denn die Zeit, wie<lb/> ich dir ſchon geſagt, iſt kurz.</p> </sp><lb/> <sp who="#BRI"> <speaker><hi rendition="#g">Brigitte</hi>.</speaker><lb/> <p>Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jah-<lb/> res, nach einer ſeltſamen Schwermuth, von welcher<lb/> kein Menſch die Urſache ergründen konnte, erkrankt;<lb/> matt lag er da, mit glutrothem Antlitz und phanta-<lb/> ſirte; die Aerzte, die ihre Mittel erſchöpft hatten,<lb/> ſprachen, er ſei nicht zu retten. Alles, was in ſeinem<lb/> Herzen verſchloſſen war, lag nun, im Wahnſin des<lb/> Fiebers, auf ſeiner Zunge: er ſcheide gern, ſprach er<lb/> von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu<lb/> lieben, ſei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe ſei<lb/> Tod; die Welt nannt' er ein Grab, und das Grab eine<lb/> Wiege, und meinte, er würde nun erſt gebohren wer-<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0085]
Roſalie.
Hab ich es dir nicht geſagt?
Brigitte.
Nun, bei meiner Treu, ſo kann ich mich ins
Grab legen: der Traum des Grafen vom Strahl
iſt aus!
Kunigunde.
Welch ein Traum?
Roſalie.
Hört nur, hört! Es iſt die wunderlichſte Ge-
ſchichte von der Welt! — — Aber ſei bündig, Müt-
terchen, und ſpare den Eingang; denn die Zeit, wie
ich dir ſchon geſagt, iſt kurz.
Brigitte.
Der Graf war gegen das Ende des vorletzten Jah-
res, nach einer ſeltſamen Schwermuth, von welcher
kein Menſch die Urſache ergründen konnte, erkrankt;
matt lag er da, mit glutrothem Antlitz und phanta-
ſirte; die Aerzte, die ihre Mittel erſchöpft hatten,
ſprachen, er ſei nicht zu retten. Alles, was in ſeinem
Herzen verſchloſſen war, lag nun, im Wahnſin des
Fiebers, auf ſeiner Zunge: er ſcheide gern, ſprach er
von hinnen; das Mädchen, das fähig wäre, ihn zu
lieben, ſei nicht vorhanden; Leben aber ohne Liebe ſei
Tod; die Welt nannt' er ein Grab, und das Grab eine
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Zitationshilfe: | Kleist, Heinrich von: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe. Berlin, 1810, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleist_kaethchen_1810/85>, abgerufen am 23.07.2024. |