Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_170.001 pkl_170.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0196" n="170"/><lb n="pkl_170.001"/> Schicksal der Alten ist mit der Kultur, aus welcher es <lb n="pkl_170.002"/> sein Leben sog, zu Grabe gegangen.“ Nur eine unbegreifliche <lb n="pkl_170.003"/> Verblendung konnte den Versuch wagen, es <lb n="pkl_170.004"/> in den sogenannten <hi rendition="#g">Schicksalstragödien</hi> wieder <lb n="pkl_170.005"/> herauf beschwören zu wollen. Jedermann weiß, wie sehr <lb n="pkl_170.006"/> die Verfasser derselben (<hi rendition="#g">Müllner, Grillparzer,</hi> Z. <lb n="pkl_170.007"/> <hi rendition="#g">Werner</hi>) sich dabei die Finger verbrannt haben. Da <lb n="pkl_170.008"/> nun auch kein Dichter in die Versuchung kommen wird, <lb n="pkl_170.009"/> seinen Helden gegen <hi rendition="#g">Gott selbst</hi> oder gegen seine Regierung, <lb n="pkl_170.010"/> gegen die <hi rendition="#g">göttliche Vorsehung</hi> in Kampf <lb n="pkl_170.011"/> treten zu lassen, so fragt es sich, worin der <hi rendition="#g">moderne</hi> <lb n="pkl_170.012"/> Tragödiker Ersatz findet für jene untergegangene, erhabene <lb n="pkl_170.013"/> Schicksalsidee? Er kann ihn nur finden in den <lb n="pkl_170.014"/> <hi rendition="#g">Einrichtungen und festgewurzelten Formen <lb n="pkl_170.015"/> der menschlichen Gesellschaft.</hi> Jndem aber der <lb n="pkl_170.016"/> Dichter seinen Helden in Kampf stellt mit dem <hi rendition="#g">Gewohnheitsmäßigen</hi> <lb n="pkl_170.017"/> in der <hi rendition="#g">Kultur,</hi> mit den <hi rendition="#g">habituell</hi> <lb n="pkl_170.018"/> gewordenen <hi rendition="#g">Zuständen</hi> der <hi rendition="#g">Gesellschaft,</hi> <lb n="pkl_170.019"/> indem er in ihm das <hi rendition="#g">Jdeale,</hi> gleichviel ob dasselbe <lb n="pkl_170.020"/> irrig oder wahr ist, dem <hi rendition="#g">Realen,</hi> die <hi rendition="#g">Natur</hi> der <lb n="pkl_170.021"/> <hi rendition="#g">Kultur</hi> entgegensetzt — führt er ihm einem <hi rendition="#g">Feinde</hi> <lb n="pkl_170.022"/> gegenüber, dessen <hi rendition="#g">Macht</hi> wohl der des Schicksals der <lb n="pkl_170.023"/> Alten an <hi rendition="#g">Furchtbarkeit</hi> nicht nachsteht. Der tragische <lb n="pkl_170.024"/> Held tritt gegen eine ganze Welt auf und verletzt eine <lb n="pkl_170.025"/> Ordnung der Dinge, für welche Tausende sich in den <lb n="pkl_170.026"/> Streit zu geben bereit sind. Ein solcher Kampf aber <lb n="pkl_170.027"/> gewährt einen hocherhabenen Anblick und selbst, wenn <lb n="pkl_170.028"/> er von <hi rendition="#g">sittlicher</hi> Seite <hi rendition="#g">verwerflich</hi> ist, <hi rendition="#g">wird er <lb n="pkl_170.029"/> einen tiefen Eindruck erzeugen,</hi> sobald uns in <lb n="pkl_170.030"/> vollendeter Kunstdarstellung durch ihn eine <hi rendition="#g">außergewöhnliche,</hi> <lb n="pkl_170.031"/> gewissermaaßen <hi rendition="#g">übernatürliche</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [170/0196]
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Schicksal der Alten ist mit der Kultur, aus welcher es pkl_170.002
sein Leben sog, zu Grabe gegangen.“ Nur eine unbegreifliche pkl_170.003
Verblendung konnte den Versuch wagen, es pkl_170.004
in den sogenannten Schicksalstragödien wieder pkl_170.005
herauf beschwören zu wollen. Jedermann weiß, wie sehr pkl_170.006
die Verfasser derselben (Müllner, Grillparzer, Z. pkl_170.007
Werner) sich dabei die Finger verbrannt haben. Da pkl_170.008
nun auch kein Dichter in die Versuchung kommen wird, pkl_170.009
seinen Helden gegen Gott selbst oder gegen seine Regierung, pkl_170.010
gegen die göttliche Vorsehung in Kampf pkl_170.011
treten zu lassen, so fragt es sich, worin der moderne pkl_170.012
Tragödiker Ersatz findet für jene untergegangene, erhabene pkl_170.013
Schicksalsidee? Er kann ihn nur finden in den pkl_170.014
Einrichtungen und festgewurzelten Formen pkl_170.015
der menschlichen Gesellschaft. Jndem aber der pkl_170.016
Dichter seinen Helden in Kampf stellt mit dem Gewohnheitsmäßigen pkl_170.017
in der Kultur, mit den habituell pkl_170.018
gewordenen Zuständen der Gesellschaft, pkl_170.019
indem er in ihm das Jdeale, gleichviel ob dasselbe pkl_170.020
irrig oder wahr ist, dem Realen, die Natur der pkl_170.021
Kultur entgegensetzt — führt er ihm einem Feinde pkl_170.022
gegenüber, dessen Macht wohl der des Schicksals der pkl_170.023
Alten an Furchtbarkeit nicht nachsteht. Der tragische pkl_170.024
Held tritt gegen eine ganze Welt auf und verletzt eine pkl_170.025
Ordnung der Dinge, für welche Tausende sich in den pkl_170.026
Streit zu geben bereit sind. Ein solcher Kampf aber pkl_170.027
gewährt einen hocherhabenen Anblick und selbst, wenn pkl_170.028
er von sittlicher Seite verwerflich ist, wird er pkl_170.029
einen tiefen Eindruck erzeugen, sobald uns in pkl_170.030
vollendeter Kunstdarstellung durch ihn eine außergewöhnliche, pkl_170.031
gewissermaaßen übernatürliche
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