Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

pkl_161.001
werden dürfen, obgleich dieselben bühnengemäß sind und pkl_161.002
das Lesen derselben dabei Niemand verwehrt wird, -- pkl_161.003
um die Wichtigkeit, die Macht, die das Drama auf pkl_161.004
die geselligen und staatsbürgerlichen Verhältnisse ausüben pkl_161.005
kann, zu ahnen. Hören wir darüber A. W. pkl_161.006
Schlegel: "Jm gewöhnlichen Umgange zeigen die pkl_161.007
Menschen nur ihre Außenseite. Mißtrauen oder Gleichgültigkeit pkl_161.008
halten sie davon zurück, andere in ihr Jnneres pkl_161.009
schauen zu lassen, und von dem, was unserem pkl_161.010
Herzen am nächsten liegt, mit einiger Rührung und pkl_161.011
Erschütterung zu sprechen, würde dem Ton der feinen pkl_161.012
Gesellschaft nicht angemessen sein. Der dramatische pkl_161.013
Dichter findet das Mittel, diese Schranken konventioneller, pkl_161.014
durch die Sitte vorgeschriebener Zurückhaltung pkl_161.015
einzureißen. Jndem er seine Zuhörer in so lebhafte Gemüthsbewegung pkl_161.016
versetzt, daß die äußeren Zeichen davon pkl_161.017
unwillkührlich hervorbrechen, nimmt jeder an den Uebrigen pkl_161.018
die gleiche Rührung wahr, und so werden Menschen, pkl_161.019
die sich bisher fremd waren, plötzlich auf einen pkl_161.020
Augenblick zu Vertrauten. Die Thränen, welche der pkl_161.021
Schauspieler sie für einen verleumdeten Unschuldigen, pkl_161.022
für einen in den Tod gehenden Helden zu vergießen pkl_161.023
nöthigt, befreunden, verbrüdern sie alle. Es ist unglaublich, pkl_161.024
welche verstärkende Kraft die sichtbare Gemeinschaft pkl_161.025
Vieler für ein inniges Gefühl hat, das sich sonst pkl_161.026
gewöhnlich in die Einsamkeit zurück zieht, oder nur in pkl_161.027
freundschaftlicher Zutraulichkeit offenbart. Der Glaube pkl_161.028
an dessen Gültigkeit wird durch seine Verbreitung unerschütterlich, pkl_161.029
wir fühlen uns stark unter so vielen Mitgenossen pkl_161.030
und alle Gemüther fließen in einen großen pkl_161.031
Strom zusammen. Eben deswegen ist aber das Vorrecht,

pkl_161.001
werden dürfen, obgleich dieselben bühnengemäß sind und pkl_161.002
das Lesen derselben dabei Niemand verwehrt wird, — pkl_161.003
um die Wichtigkeit, die Macht, die das Drama auf pkl_161.004
die geselligen und staatsbürgerlichen Verhältnisse ausüben pkl_161.005
kann, zu ahnen. Hören wir darüber A. W. pkl_161.006
Schlegel: „Jm gewöhnlichen Umgange zeigen die pkl_161.007
Menschen nur ihre Außenseite. Mißtrauen oder Gleichgültigkeit pkl_161.008
halten sie davon zurück, andere in ihr Jnneres pkl_161.009
schauen zu lassen, und von dem, was unserem pkl_161.010
Herzen am nächsten liegt, mit einiger Rührung und pkl_161.011
Erschütterung zu sprechen, würde dem Ton der feinen pkl_161.012
Gesellschaft nicht angemessen sein. Der dramatische pkl_161.013
Dichter findet das Mittel, diese Schranken konventioneller, pkl_161.014
durch die Sitte vorgeschriebener Zurückhaltung pkl_161.015
einzureißen. Jndem er seine Zuhörer in so lebhafte Gemüthsbewegung pkl_161.016
versetzt, daß die äußeren Zeichen davon pkl_161.017
unwillkührlich hervorbrechen, nimmt jeder an den Uebrigen pkl_161.018
die gleiche Rührung wahr, und so werden Menschen, pkl_161.019
die sich bisher fremd waren, plötzlich auf einen pkl_161.020
Augenblick zu Vertrauten. Die Thränen, welche der pkl_161.021
Schauspieler sie für einen verleumdeten Unschuldigen, pkl_161.022
für einen in den Tod gehenden Helden zu vergießen pkl_161.023
nöthigt, befreunden, verbrüdern sie alle. Es ist unglaublich, pkl_161.024
welche verstärkende Kraft die sichtbare Gemeinschaft pkl_161.025
Vieler für ein inniges Gefühl hat, das sich sonst pkl_161.026
gewöhnlich in die Einsamkeit zurück zieht, oder nur in pkl_161.027
freundschaftlicher Zutraulichkeit offenbart. Der Glaube pkl_161.028
an dessen Gültigkeit wird durch seine Verbreitung unerschütterlich, pkl_161.029
wir fühlen uns stark unter so vielen Mitgenossen pkl_161.030
und alle Gemüther fließen in einen großen pkl_161.031
Strom zusammen. Eben deswegen ist aber das Vorrecht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0187" n="161"/><lb n="pkl_161.001"/>
werden dürfen, obgleich dieselben bühnengemäß sind und <lb n="pkl_161.002"/>
das Lesen derselben dabei Niemand verwehrt wird, &#x2014; <lb n="pkl_161.003"/>
um die Wichtigkeit, die Macht, die das Drama auf <lb n="pkl_161.004"/>
die geselligen und staatsbürgerlichen Verhältnisse ausüben <lb n="pkl_161.005"/>
kann, zu ahnen. Hören wir darüber A. W. <lb n="pkl_161.006"/> <hi rendition="#g">Schlegel:</hi> &#x201E;Jm gewöhnlichen Umgange zeigen die <lb n="pkl_161.007"/>
Menschen nur ihre Außenseite. Mißtrauen oder Gleichgültigkeit <lb n="pkl_161.008"/>
halten sie davon zurück, andere in ihr Jnneres <lb n="pkl_161.009"/>
schauen zu lassen, und von dem, was unserem <lb n="pkl_161.010"/>
Herzen am nächsten liegt, mit einiger Rührung und <lb n="pkl_161.011"/>
Erschütterung zu sprechen, würde dem Ton der feinen <lb n="pkl_161.012"/>
Gesellschaft nicht angemessen sein. Der dramatische <lb n="pkl_161.013"/>
Dichter findet das Mittel, diese Schranken konventioneller, <lb n="pkl_161.014"/>
durch die Sitte vorgeschriebener Zurückhaltung <lb n="pkl_161.015"/>
einzureißen. Jndem er seine Zuhörer in so lebhafte Gemüthsbewegung <lb n="pkl_161.016"/>
versetzt, daß die äußeren Zeichen davon <lb n="pkl_161.017"/>
unwillkührlich hervorbrechen, nimmt jeder an den Uebrigen <lb n="pkl_161.018"/>
die gleiche Rührung wahr, und so werden Menschen, <lb n="pkl_161.019"/>
die sich bisher fremd waren, plötzlich auf einen <lb n="pkl_161.020"/>
Augenblick zu Vertrauten. Die Thränen, welche der <lb n="pkl_161.021"/>
Schauspieler sie für einen verleumdeten Unschuldigen, <lb n="pkl_161.022"/>
für einen in den Tod gehenden Helden zu vergießen <lb n="pkl_161.023"/>
nöthigt, befreunden, verbrüdern sie alle. Es ist unglaublich, <lb n="pkl_161.024"/>
welche verstärkende Kraft die sichtbare Gemeinschaft <lb n="pkl_161.025"/>
Vieler für ein inniges Gefühl hat, das sich sonst <lb n="pkl_161.026"/>
gewöhnlich in die Einsamkeit zurück zieht, oder nur in <lb n="pkl_161.027"/>
freundschaftlicher Zutraulichkeit offenbart. Der Glaube <lb n="pkl_161.028"/>
an dessen Gültigkeit wird durch seine Verbreitung unerschütterlich, <lb n="pkl_161.029"/>
wir fühlen uns stark unter so vielen Mitgenossen <lb n="pkl_161.030"/>
und alle Gemüther fließen in einen großen <lb n="pkl_161.031"/>
Strom zusammen. Eben deswegen ist aber das Vorrecht,
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0187] pkl_161.001 werden dürfen, obgleich dieselben bühnengemäß sind und pkl_161.002 das Lesen derselben dabei Niemand verwehrt wird, — pkl_161.003 um die Wichtigkeit, die Macht, die das Drama auf pkl_161.004 die geselligen und staatsbürgerlichen Verhältnisse ausüben pkl_161.005 kann, zu ahnen. Hören wir darüber A. W. pkl_161.006 Schlegel: „Jm gewöhnlichen Umgange zeigen die pkl_161.007 Menschen nur ihre Außenseite. Mißtrauen oder Gleichgültigkeit pkl_161.008 halten sie davon zurück, andere in ihr Jnneres pkl_161.009 schauen zu lassen, und von dem, was unserem pkl_161.010 Herzen am nächsten liegt, mit einiger Rührung und pkl_161.011 Erschütterung zu sprechen, würde dem Ton der feinen pkl_161.012 Gesellschaft nicht angemessen sein. Der dramatische pkl_161.013 Dichter findet das Mittel, diese Schranken konventioneller, pkl_161.014 durch die Sitte vorgeschriebener Zurückhaltung pkl_161.015 einzureißen. Jndem er seine Zuhörer in so lebhafte Gemüthsbewegung pkl_161.016 versetzt, daß die äußeren Zeichen davon pkl_161.017 unwillkührlich hervorbrechen, nimmt jeder an den Uebrigen pkl_161.018 die gleiche Rührung wahr, und so werden Menschen, pkl_161.019 die sich bisher fremd waren, plötzlich auf einen pkl_161.020 Augenblick zu Vertrauten. Die Thränen, welche der pkl_161.021 Schauspieler sie für einen verleumdeten Unschuldigen, pkl_161.022 für einen in den Tod gehenden Helden zu vergießen pkl_161.023 nöthigt, befreunden, verbrüdern sie alle. Es ist unglaublich, pkl_161.024 welche verstärkende Kraft die sichtbare Gemeinschaft pkl_161.025 Vieler für ein inniges Gefühl hat, das sich sonst pkl_161.026 gewöhnlich in die Einsamkeit zurück zieht, oder nur in pkl_161.027 freundschaftlicher Zutraulichkeit offenbart. Der Glaube pkl_161.028 an dessen Gültigkeit wird durch seine Verbreitung unerschütterlich, pkl_161.029 wir fühlen uns stark unter so vielen Mitgenossen pkl_161.030 und alle Gemüther fließen in einen großen pkl_161.031 Strom zusammen. Eben deswegen ist aber das Vorrecht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/187
Zitationshilfe: Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kleinpaul_poetik_1843/187>, abgerufen am 24.11.2024.