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Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912.

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So hat Preußen ein Dreiklassenwahlrecht, das an den Besitz ge-
bunden ist. Die Wahl ist allgemein, ungleich, öffentlich, indirekt. Die
Staatsbürger eines jeden Wahlkreises zerfallen je nach der Steuerleistung
in: Wähler erster Klasse: die Besitzenden, Höchstbesteuerten,
Wähler zweiter Klasse: der Mittelstand,
Wähler dritter Klasse: die Mindestbesteuerten und die Steuerfreien.

Jede dieser Klassen hat rund 1/3 der Gesamtsteuersumme aufzubringen.
Es ist klar, daß zehn Leute erster Klasse mit Leichtigkeit eine Summe
ausbringen können, zu deren Erbringung 600 Leute dritter Klasse oft
nicht in der Lage sind. Das bedeutet aber für die politischen Rechte,
das zehn Wähler erster Klasse ebensoviel Rechte haben als sechshundert
Wähler dritter Klasse. Ungefähr stimmt dies mit den Verhältnissen der
Stadt Charlottenburg, wo ein Erster-Klasse-Wähler 56 mal soviel Wahl-
recht hat als ein Dritter-Klasse-Wähler. Jn großen Jndustriezentren
mit starker Arbeiterbevölkerung auf der einen, Finanzgrößen auf der
andern Seite, verschieben sich diese Zahlen noch mehr zu ungunsten der
dritten Klasse, ebenso wie im gelobten Lande der Agrarier. Jn Preußen
wählen 82% der Gesamtbevölkerung in der dritten Klasse.

Da die Wahlen öffentlich sind, ist natürlich die Wahlfreiheit der
kleinen Beamten und Arbeitnehmer nur ein sehr zweifelhafter Begriff;
da sie indirekt sind - die Wähler wählen Wahlmänner und diese erst
den Kandidaten -, ist der Einfluß des einzelnen Wählers auf die
Wahl eines bestimmten von ihm gewünschten Kandidaten ein unsicherer.

Was käme nun bei diesem Wahlgesetz für die Frauen heraus?
Jch beziehe mich in folgendem auf Feststellungen von Frau Tony Breit-
scheid
in ihrer Broschüre: "Die Notwendigkeit der Forderung des all-
gemeinen gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts". Danach waren
von den 8 1/2 Millionen erwerbstätiger Frauen im Deutschen Reich
im Jahre 1910 in leitenden Stellungen rund 11/2 Millionen, also 1/6
während rund 7 Millionen in schlecht und mäßig besoldeten Stellen
arbeiteten. Diese letzteren 5/6 würden also von vornherein in
die so gut wie einflußlose dritte Wählerklasse kommen
, und
auch das eine Sechstel in leitenden Stellen würde bei der doppelten
Bezahlung von Mann und Frau von seinem Niveau heruntergedrückt
werden und dem besser situierten Manne gegenüber im Rückstande sein.

Ebenso die berufslosen Ehefrauen. Da ihre Einnahmen,
selbst da, wo sie eigenes Vermögen haben, nicht selbständig versteuert
werden, - nicht einmal da, wo sie durch Ehevertrag sich ihr Vor-
behaltsgut gesichert haben -, fallen auch sie der dritten Klasse anheim.
Mit andern Worten: Sowohl erwerbstätige wie Ehefrauen, also das

So hat Preußen ein Dreiklassenwahlrecht, das an den Besitz ge-
bunden ist. Die Wahl ist allgemein, ungleich, öffentlich, indirekt. Die
Staatsbürger eines jeden Wahlkreises zerfallen je nach der Steuerleistung
in: Wähler erster Klasse: die Besitzenden, Höchstbesteuerten,
Wähler zweiter Klasse: der Mittelstand,
Wähler dritter Klasse: die Mindestbesteuerten und die Steuerfreien.

Jede dieser Klassen hat rund ⅓ der Gesamtsteuersumme aufzubringen.
Es ist klar, daß zehn Leute erster Klasse mit Leichtigkeit eine Summe
ausbringen können, zu deren Erbringung 600 Leute dritter Klasse oft
nicht in der Lage sind. Das bedeutet aber für die politischen Rechte,
das zehn Wähler erster Klasse ebensoviel Rechte haben als sechshundert
Wähler dritter Klasse. Ungefähr stimmt dies mit den Verhältnissen der
Stadt Charlottenburg, wo ein Erster-Klasse-Wähler 56 mal soviel Wahl-
recht hat als ein Dritter-Klasse-Wähler. Jn großen Jndustriezentren
mit starker Arbeiterbevölkerung auf der einen, Finanzgrößen auf der
andern Seite, verschieben sich diese Zahlen noch mehr zu ungunsten der
dritten Klasse, ebenso wie im gelobten Lande der Agrarier. Jn Preußen
wählen 82% der Gesamtbevölkerung in der dritten Klasse.

Da die Wahlen öffentlich sind, ist natürlich die Wahlfreiheit der
kleinen Beamten und Arbeitnehmer nur ein sehr zweifelhafter Begriff;
da sie indirekt sind – die Wähler wählen Wahlmänner und diese erst
den Kandidaten –, ist der Einfluß des einzelnen Wählers auf die
Wahl eines bestimmten von ihm gewünschten Kandidaten ein unsicherer.

Was käme nun bei diesem Wahlgesetz für die Frauen heraus?
Jch beziehe mich in folgendem auf Feststellungen von Frau Tony Breit-
scheid
in ihrer Broschüre: „Die Notwendigkeit der Forderung des all-
gemeinen gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts“. Danach waren
von den 8 ½ Millionen erwerbstätiger Frauen im Deutschen Reich
im Jahre 1910 in leitenden Stellungen rund 1½ Millionen, also ⅙
während rund 7 Millionen in schlecht und mäßig besoldeten Stellen
arbeiteten. Diese letzteren ⅚ würden also von vornherein in
die so gut wie einflußlose dritte Wählerklasse kommen
, und
auch das eine Sechstel in leitenden Stellen würde bei der doppelten
Bezahlung von Mann und Frau von seinem Niveau heruntergedrückt
werden und dem besser situierten Manne gegenüber im Rückstande sein.

Ebenso die berufslosen Ehefrauen. Da ihre Einnahmen,
selbst da, wo sie eigenes Vermögen haben, nicht selbständig versteuert
werden, – nicht einmal da, wo sie durch Ehevertrag sich ihr Vor-
behaltsgut gesichert haben –, fallen auch sie der dritten Klasse anheim.
Mit andern Worten: Sowohl erwerbstätige wie Ehefrauen, also das

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[18/0018] So hat Preußen ein Dreiklassenwahlrecht, das an den Besitz ge- bunden ist. Die Wahl ist allgemein, ungleich, öffentlich, indirekt. Die Staatsbürger eines jeden Wahlkreises zerfallen je nach der Steuerleistung in: Wähler erster Klasse: die Besitzenden, Höchstbesteuerten, Wähler zweiter Klasse: der Mittelstand, Wähler dritter Klasse: die Mindestbesteuerten und die Steuerfreien. Jede dieser Klassen hat rund ⅓ der Gesamtsteuersumme aufzubringen. Es ist klar, daß zehn Leute erster Klasse mit Leichtigkeit eine Summe ausbringen können, zu deren Erbringung 600 Leute dritter Klasse oft nicht in der Lage sind. Das bedeutet aber für die politischen Rechte, das zehn Wähler erster Klasse ebensoviel Rechte haben als sechshundert Wähler dritter Klasse. Ungefähr stimmt dies mit den Verhältnissen der Stadt Charlottenburg, wo ein Erster-Klasse-Wähler 56 mal soviel Wahl- recht hat als ein Dritter-Klasse-Wähler. Jn großen Jndustriezentren mit starker Arbeiterbevölkerung auf der einen, Finanzgrößen auf der andern Seite, verschieben sich diese Zahlen noch mehr zu ungunsten der dritten Klasse, ebenso wie im gelobten Lande der Agrarier. Jn Preußen wählen 82% der Gesamtbevölkerung in der dritten Klasse. Da die Wahlen öffentlich sind, ist natürlich die Wahlfreiheit der kleinen Beamten und Arbeitnehmer nur ein sehr zweifelhafter Begriff; da sie indirekt sind – die Wähler wählen Wahlmänner und diese erst den Kandidaten –, ist der Einfluß des einzelnen Wählers auf die Wahl eines bestimmten von ihm gewünschten Kandidaten ein unsicherer. Was käme nun bei diesem Wahlgesetz für die Frauen heraus? Jch beziehe mich in folgendem auf Feststellungen von Frau Tony Breit- scheid in ihrer Broschüre: „Die Notwendigkeit der Forderung des all- gemeinen gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts“. Danach waren von den 8 ½ Millionen erwerbstätiger Frauen im Deutschen Reich im Jahre 1910 in leitenden Stellungen rund 1½ Millionen, also ⅙ während rund 7 Millionen in schlecht und mäßig besoldeten Stellen arbeiteten. Diese letzteren ⅚ würden also von vornherein in die so gut wie einflußlose dritte Wählerklasse kommen, und auch das eine Sechstel in leitenden Stellen würde bei der doppelten Bezahlung von Mann und Frau von seinem Niveau heruntergedrückt werden und dem besser situierten Manne gegenüber im Rückstande sein. Ebenso die berufslosen Ehefrauen. Da ihre Einnahmen, selbst da, wo sie eigenes Vermögen haben, nicht selbständig versteuert werden, – nicht einmal da, wo sie durch Ehevertrag sich ihr Vor- behaltsgut gesichert haben –, fallen auch sie der dritten Klasse anheim. Mit andern Worten: Sowohl erwerbstätige wie Ehefrauen, also das

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Anna Pfundt: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2014-07-16T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2014-07-16T11:00:00Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Kirchhoff, Auguste: Warum muß der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht sich zum allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht bekennen? Bremen, 1912, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kirchhoff_frauenstimmrecht_1912/18>, abgerufen am 23.11.2024.