Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.in eine neue Aeußerung seiner verhehlten Glut zu verstricken, bis ihn endlich die Zuthunlichkeit des Fräuleins und das gleichmüthige Zusehen der Mutter wirklich täuschte und er an die Möglichkeit der Erreichung glaubte. Nachdem er noch einige Monate gehänselt worden, heirathete das unschuldige Kind einen reichen Hagestolzen, dessen Häßlichkeit nur von seiner Dummheit übertroffen wurde. Sohling war nicht so schwach, sie noch fort zu lieben; sein Herz war so plötzlich abgekühlt, daß er ein paar Jahre fortlebte, ohne es einer neuen Liebe zu öffnen. Die beiden Künstler gingen nun ihren Lebenspfad ruhig neben einander hin, mit dem vollen Gefühl der Sicherheit; er, daß er zu gleichmüthig geworden sei, um je wieder zu lieben; sie, daß ihre ewige Trauer um Selvar der Talisman sei, der ihr Herz mit dreifachem Panzer umgebe. Dabei bemerkten Beide nicht, warum ein Abend, in anderer Gesellschaft zugebracht, selbst bei reichen geistigen Genüssen, ihnen bei Weitem leerer und inhaltloser erschien, als das stille Beisammensein im Hause der Malerin. War Ida nicht im Concerte, so dirigirte er nur mit halbem Ehrgeiz; erwartete sie ihn vergebens um die Stunde, wenn er zu kommen pflegte, so ward sie verstimmt und konnte weder am Klavier noch bei ihren Büchern rechte Ruhe finden. Ein lang gehegter Wunsch Sohling's ward ihm jetzt unvermuthet wieder nahe gerückt. In einer kleineren, in eine neue Aeußerung seiner verhehlten Glut zu verstricken, bis ihn endlich die Zuthunlichkeit des Fräuleins und das gleichmüthige Zusehen der Mutter wirklich täuschte und er an die Möglichkeit der Erreichung glaubte. Nachdem er noch einige Monate gehänselt worden, heirathete das unschuldige Kind einen reichen Hagestolzen, dessen Häßlichkeit nur von seiner Dummheit übertroffen wurde. Sohling war nicht so schwach, sie noch fort zu lieben; sein Herz war so plötzlich abgekühlt, daß er ein paar Jahre fortlebte, ohne es einer neuen Liebe zu öffnen. Die beiden Künstler gingen nun ihren Lebenspfad ruhig neben einander hin, mit dem vollen Gefühl der Sicherheit; er, daß er zu gleichmüthig geworden sei, um je wieder zu lieben; sie, daß ihre ewige Trauer um Selvar der Talisman sei, der ihr Herz mit dreifachem Panzer umgebe. Dabei bemerkten Beide nicht, warum ein Abend, in anderer Gesellschaft zugebracht, selbst bei reichen geistigen Genüssen, ihnen bei Weitem leerer und inhaltloser erschien, als das stille Beisammensein im Hause der Malerin. War Ida nicht im Concerte, so dirigirte er nur mit halbem Ehrgeiz; erwartete sie ihn vergebens um die Stunde, wenn er zu kommen pflegte, so ward sie verstimmt und konnte weder am Klavier noch bei ihren Büchern rechte Ruhe finden. Ein lang gehegter Wunsch Sohling's ward ihm jetzt unvermuthet wieder nahe gerückt. In einer kleineren, <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0065"/> in eine neue Aeußerung seiner verhehlten Glut zu verstricken, bis ihn endlich die Zuthunlichkeit des Fräuleins und das gleichmüthige Zusehen der Mutter wirklich täuschte und er an die Möglichkeit der Erreichung glaubte. Nachdem er noch einige Monate gehänselt worden, heirathete das unschuldige Kind einen reichen Hagestolzen, dessen Häßlichkeit nur von seiner Dummheit übertroffen wurde.</p><lb/> <p>Sohling war nicht so schwach, sie noch fort zu lieben; sein Herz war so plötzlich abgekühlt, daß er ein paar Jahre fortlebte, ohne es einer neuen Liebe zu öffnen.</p><lb/> <p>Die beiden Künstler gingen nun ihren Lebenspfad ruhig neben einander hin, mit dem vollen Gefühl der Sicherheit; er, daß er zu gleichmüthig geworden sei, um je wieder zu lieben; sie, daß ihre ewige Trauer um Selvar der Talisman sei, der ihr Herz mit dreifachem Panzer umgebe. Dabei bemerkten Beide nicht, warum ein Abend, in anderer Gesellschaft zugebracht, selbst bei reichen geistigen Genüssen, ihnen bei Weitem leerer und inhaltloser erschien, als das stille Beisammensein im Hause der Malerin. War Ida nicht im Concerte, so dirigirte er nur mit halbem Ehrgeiz; erwartete sie ihn vergebens um die Stunde, wenn er zu kommen pflegte, so ward sie verstimmt und konnte weder am Klavier noch bei ihren Büchern rechte Ruhe finden.</p><lb/> <p>Ein lang gehegter Wunsch Sohling's ward ihm jetzt unvermuthet wieder nahe gerückt. In einer kleineren,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
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Sohling war nicht so schwach, sie noch fort zu lieben; sein Herz war so plötzlich abgekühlt, daß er ein paar Jahre fortlebte, ohne es einer neuen Liebe zu öffnen.
Die beiden Künstler gingen nun ihren Lebenspfad ruhig neben einander hin, mit dem vollen Gefühl der Sicherheit; er, daß er zu gleichmüthig geworden sei, um je wieder zu lieben; sie, daß ihre ewige Trauer um Selvar der Talisman sei, der ihr Herz mit dreifachem Panzer umgebe. Dabei bemerkten Beide nicht, warum ein Abend, in anderer Gesellschaft zugebracht, selbst bei reichen geistigen Genüssen, ihnen bei Weitem leerer und inhaltloser erschien, als das stille Beisammensein im Hause der Malerin. War Ida nicht im Concerte, so dirigirte er nur mit halbem Ehrgeiz; erwartete sie ihn vergebens um die Stunde, wenn er zu kommen pflegte, so ward sie verstimmt und konnte weder am Klavier noch bei ihren Büchern rechte Ruhe finden.
Ein lang gehegter Wunsch Sohling's ward ihm jetzt unvermuthet wieder nahe gerückt. In einer kleineren,
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/65>, abgerufen am 17.02.2025. |