Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

bei der Herzensverschlossenheit großstädtischer Damen nie vorgekommen war. Ida fühlte sich zwar am andern Tage beschämt, weil sie ihr Herzensgeheimniß verrathen; doch überwog die heimliche Lust, daß sie endlich Einen Menschen gefunden, mit dem sie von ihm reden konnte, der auch einst in seiner zauberischen Nähe gelebt hatte. Sie strebte ihre Erinnerungen vor dem gnvermeidlichen Verblassen zu bewahren, dem endlich jede Liebe, die ihren Hauptsitz in der Phantasie hat, vor Mangel an frischer Nahrung verfällt.

Sohling hatte einen ähnlichen düstern Punkt in seiner Vergangenheit, mit dessen Enthüllung er Ida's Vertrauen erwiderte. Eine schöne vornehme Schülerin hatte er geliebt, die mit einer herrlichen Stimme ein wirkliches Talent verband. Eben aus einer Pariser Pension heimgekehrt, hatte sich das junge kokette Mädchen darin gefallen, mit dem Gesanglehrer ein Vorspiel der Rolle aufzuführen, die sie den Winter bei Hofe zu erhalten dachte. Die Mama hatte es nicht übel gefunden, daß die Kleine sich an den Huldigungen eines so unschädlichen Individuums einübte, um bei den bald zu erwartenden ernstlicheren nicht linkisch und verlegen zu erscheinen.

Sohling hatte lange geglaubt, einer kindlichen Seele erste Liebe zu sein; mit bitterer Entsagung bezwang er sich ihr gegenüber, im Vorgefühle der Hoffnungslosigkeit ihrer gegenseitigen Wünsche. Dann wußte die kleine Raffinirte ihn durch scheinbar unbefangene Fragen

bei der Herzensverschlossenheit großstädtischer Damen nie vorgekommen war. Ida fühlte sich zwar am andern Tage beschämt, weil sie ihr Herzensgeheimniß verrathen; doch überwog die heimliche Lust, daß sie endlich Einen Menschen gefunden, mit dem sie von ihm reden konnte, der auch einst in seiner zauberischen Nähe gelebt hatte. Sie strebte ihre Erinnerungen vor dem gnvermeidlichen Verblassen zu bewahren, dem endlich jede Liebe, die ihren Hauptsitz in der Phantasie hat, vor Mangel an frischer Nahrung verfällt.

Sohling hatte einen ähnlichen düstern Punkt in seiner Vergangenheit, mit dessen Enthüllung er Ida's Vertrauen erwiderte. Eine schöne vornehme Schülerin hatte er geliebt, die mit einer herrlichen Stimme ein wirkliches Talent verband. Eben aus einer Pariser Pension heimgekehrt, hatte sich das junge kokette Mädchen darin gefallen, mit dem Gesanglehrer ein Vorspiel der Rolle aufzuführen, die sie den Winter bei Hofe zu erhalten dachte. Die Mama hatte es nicht übel gefunden, daß die Kleine sich an den Huldigungen eines so unschädlichen Individuums einübte, um bei den bald zu erwartenden ernstlicheren nicht linkisch und verlegen zu erscheinen.

Sohling hatte lange geglaubt, einer kindlichen Seele erste Liebe zu sein; mit bitterer Entsagung bezwang er sich ihr gegenüber, im Vorgefühle der Hoffnungslosigkeit ihrer gegenseitigen Wünsche. Dann wußte die kleine Raffinirte ihn durch scheinbar unbefangene Fragen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0064"/>
bei der Herzensverschlossenheit      großstädtischer Damen nie vorgekommen war. Ida fühlte sich zwar am andern Tage beschämt, weil      sie ihr Herzensgeheimniß verrathen; doch überwog die heimliche Lust, daß sie endlich Einen      Menschen gefunden, mit dem sie von ihm reden konnte, der auch einst in seiner zauberischen Nähe      gelebt hatte. Sie strebte ihre Erinnerungen vor dem gnvermeidlichen Verblassen zu bewahren, dem      endlich jede Liebe, die ihren Hauptsitz in der Phantasie hat, vor Mangel an frischer Nahrung      verfällt.</p><lb/>
        <p>Sohling hatte einen ähnlichen düstern Punkt in seiner Vergangenheit, mit dessen Enthüllung er      Ida's Vertrauen erwiderte. Eine schöne vornehme Schülerin hatte er geliebt, die mit einer      herrlichen Stimme ein wirkliches Talent verband. Eben aus einer Pariser Pension heimgekehrt,      hatte sich das junge kokette Mädchen darin gefallen, mit dem Gesanglehrer ein Vorspiel der      Rolle aufzuführen, die sie den Winter bei Hofe zu erhalten dachte. Die Mama hatte es nicht übel      gefunden, daß die Kleine sich an den Huldigungen eines so unschädlichen Individuums einübte, um      bei den bald zu erwartenden ernstlicheren nicht linkisch und verlegen zu erscheinen.</p><lb/>
        <p>Sohling hatte lange geglaubt, einer kindlichen Seele erste Liebe zu sein; mit bitterer      Entsagung bezwang er sich ihr gegenüber, im Vorgefühle der Hoffnungslosigkeit ihrer      gegenseitigen Wünsche. Dann wußte die kleine Raffinirte ihn durch scheinbar unbefangene Fragen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] bei der Herzensverschlossenheit großstädtischer Damen nie vorgekommen war. Ida fühlte sich zwar am andern Tage beschämt, weil sie ihr Herzensgeheimniß verrathen; doch überwog die heimliche Lust, daß sie endlich Einen Menschen gefunden, mit dem sie von ihm reden konnte, der auch einst in seiner zauberischen Nähe gelebt hatte. Sie strebte ihre Erinnerungen vor dem gnvermeidlichen Verblassen zu bewahren, dem endlich jede Liebe, die ihren Hauptsitz in der Phantasie hat, vor Mangel an frischer Nahrung verfällt. Sohling hatte einen ähnlichen düstern Punkt in seiner Vergangenheit, mit dessen Enthüllung er Ida's Vertrauen erwiderte. Eine schöne vornehme Schülerin hatte er geliebt, die mit einer herrlichen Stimme ein wirkliches Talent verband. Eben aus einer Pariser Pension heimgekehrt, hatte sich das junge kokette Mädchen darin gefallen, mit dem Gesanglehrer ein Vorspiel der Rolle aufzuführen, die sie den Winter bei Hofe zu erhalten dachte. Die Mama hatte es nicht übel gefunden, daß die Kleine sich an den Huldigungen eines so unschädlichen Individuums einübte, um bei den bald zu erwartenden ernstlicheren nicht linkisch und verlegen zu erscheinen. Sohling hatte lange geglaubt, einer kindlichen Seele erste Liebe zu sein; mit bitterer Entsagung bezwang er sich ihr gegenüber, im Vorgefühle der Hoffnungslosigkeit ihrer gegenseitigen Wünsche. Dann wußte die kleine Raffinirte ihn durch scheinbar unbefangene Fragen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/64
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/64>, abgerufen am 23.11.2024.