Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

materieller Art anzunehmen, und das Bewußtsein ihrer düstern, unheimlichen Stimmung bewirkten, daß sie sich lange weigerte; endlich ging sie auf das Anerbieten ein, als Sohling ihr vorstellte, daß sie aufheiternd auf ihre neue Freundin wirken könne und ihr über die erste schwerste Zeit des Verlustes hinüber helfen sollte. Hier wußte sie sich an ihrer Stelle; denn sie war, gleich der Nacht, schaurig den Frohen, aber lieblich und mild tröstend den Leidenden.

Ida ward von ihren jetzigen Freunden vorzugsweise bei den Familien eingeführt, die ihren exclusiven Geschmack theilten oder sich doch den Schein davon gaben, um für die superfeinsten Kenner zu gelten. Einigen zwar war sie noch nicht orthodox genug, weil sie neben Bach und Händel auch Mozart und Beethoven verehrte; doch die meisten trugen sie aus Händen, weil sie mit unermüdlicher Gefälligkeit fast die ganze klassisch-musikalische Literatur des vorigen Jahrhunderts auswendig producirte. Nebenbei lernte Ida auch ein wenig die Heuchelei dieser Menschenklasse kennen, welche nur am Namen ihrer Abgötter klebt, ohne deren Geist je begriffen zu haben. In einer Anwandlung von Muthwillen mystificirte sie einen alten Professor, welcher eine große Verachtung gegen Beethoven zur Schau trug, den er noch vor seiner Berühmtheit persönlich gekannt hatte. Sie spielte ihm Melodieen seines Händel aus einer wenig bekannten Oper desselben für Beethoven'sche vor und ebenso umgekehrt, und er nannte die ersteren:

materieller Art anzunehmen, und das Bewußtsein ihrer düstern, unheimlichen Stimmung bewirkten, daß sie sich lange weigerte; endlich ging sie auf das Anerbieten ein, als Sohling ihr vorstellte, daß sie aufheiternd auf ihre neue Freundin wirken könne und ihr über die erste schwerste Zeit des Verlustes hinüber helfen sollte. Hier wußte sie sich an ihrer Stelle; denn sie war, gleich der Nacht, schaurig den Frohen, aber lieblich und mild tröstend den Leidenden.

Ida ward von ihren jetzigen Freunden vorzugsweise bei den Familien eingeführt, die ihren exclusiven Geschmack theilten oder sich doch den Schein davon gaben, um für die superfeinsten Kenner zu gelten. Einigen zwar war sie noch nicht orthodox genug, weil sie neben Bach und Händel auch Mozart und Beethoven verehrte; doch die meisten trugen sie aus Händen, weil sie mit unermüdlicher Gefälligkeit fast die ganze klassisch-musikalische Literatur des vorigen Jahrhunderts auswendig producirte. Nebenbei lernte Ida auch ein wenig die Heuchelei dieser Menschenklasse kennen, welche nur am Namen ihrer Abgötter klebt, ohne deren Geist je begriffen zu haben. In einer Anwandlung von Muthwillen mystificirte sie einen alten Professor, welcher eine große Verachtung gegen Beethoven zur Schau trug, den er noch vor seiner Berühmtheit persönlich gekannt hatte. Sie spielte ihm Melodieen seines Händel aus einer wenig bekannten Oper desselben für Beethoven'sche vor und ebenso umgekehrt, und er nannte die ersteren:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0054"/>
materieller Art anzunehmen, und das Bewußtsein ihrer düstern,      unheimlichen Stimmung bewirkten, daß sie sich lange weigerte; endlich ging sie auf das      Anerbieten ein, als Sohling ihr vorstellte, daß sie aufheiternd auf ihre neue Freundin wirken      könne und ihr über die erste schwerste Zeit des Verlustes hinüber helfen sollte. Hier wußte sie      sich an ihrer Stelle; denn sie war, gleich der Nacht, schaurig den Frohen, aber lieblich und      mild tröstend den Leidenden.</p><lb/>
        <p>Ida ward von ihren jetzigen Freunden vorzugsweise bei den Familien eingeführt, die ihren      exclusiven Geschmack theilten oder sich doch den Schein davon gaben, um für die superfeinsten      Kenner zu gelten. Einigen zwar war sie noch nicht orthodox genug, weil sie neben Bach und      Händel auch Mozart und Beethoven verehrte; doch die meisten trugen sie aus Händen, weil sie mit      unermüdlicher Gefälligkeit fast die ganze klassisch-musikalische Literatur des vorigen      Jahrhunderts auswendig producirte. Nebenbei lernte Ida auch ein wenig die Heuchelei dieser      Menschenklasse kennen, welche nur am Namen ihrer Abgötter klebt, ohne deren Geist je begriffen      zu haben. In einer Anwandlung von Muthwillen mystificirte sie einen alten Professor, welcher      eine große Verachtung gegen Beethoven zur Schau trug, den er noch vor seiner Berühmtheit      persönlich gekannt hatte. Sie spielte ihm Melodieen seines Händel aus einer wenig bekannten      Oper desselben für Beethoven'sche vor und ebenso umgekehrt, und er nannte die ersteren:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0054] materieller Art anzunehmen, und das Bewußtsein ihrer düstern, unheimlichen Stimmung bewirkten, daß sie sich lange weigerte; endlich ging sie auf das Anerbieten ein, als Sohling ihr vorstellte, daß sie aufheiternd auf ihre neue Freundin wirken könne und ihr über die erste schwerste Zeit des Verlustes hinüber helfen sollte. Hier wußte sie sich an ihrer Stelle; denn sie war, gleich der Nacht, schaurig den Frohen, aber lieblich und mild tröstend den Leidenden. Ida ward von ihren jetzigen Freunden vorzugsweise bei den Familien eingeführt, die ihren exclusiven Geschmack theilten oder sich doch den Schein davon gaben, um für die superfeinsten Kenner zu gelten. Einigen zwar war sie noch nicht orthodox genug, weil sie neben Bach und Händel auch Mozart und Beethoven verehrte; doch die meisten trugen sie aus Händen, weil sie mit unermüdlicher Gefälligkeit fast die ganze klassisch-musikalische Literatur des vorigen Jahrhunderts auswendig producirte. Nebenbei lernte Ida auch ein wenig die Heuchelei dieser Menschenklasse kennen, welche nur am Namen ihrer Abgötter klebt, ohne deren Geist je begriffen zu haben. In einer Anwandlung von Muthwillen mystificirte sie einen alten Professor, welcher eine große Verachtung gegen Beethoven zur Schau trug, den er noch vor seiner Berühmtheit persönlich gekannt hatte. Sie spielte ihm Melodieen seines Händel aus einer wenig bekannten Oper desselben für Beethoven'sche vor und ebenso umgekehrt, und er nannte die ersteren:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/54
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/54>, abgerufen am 24.11.2024.