Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Zuge zu seiner gefährlichen Nähe. Nun wollte sie fröhlich, gefällig, unbefangen erscheinen, und lauschte doch nur mit bangem Herzklopfen auf ein Zeichen der Sehnsucht, der bangen Leidenschaftsglut aus seinem Munde. Aber wehe, dies Auge blieb immer klar und freundlich, diese Stimme blieb mild und herzlich wie die eines Vaters, aber sie erbebte nicht. Wurde Ida einmal von einer Erinnerung überwältigt, lockte ein Lied, dessen Worte Selvar einst als Dolmetscher seiner heimlichen Neigung vorsichtig und nur ihr deutlich wiederholt hatte, ihr Thränen ins Auge, so ward er kühlhöflich und lenkte das Gespräch auf allgemeine Dinge.

Sie verzehrte sich in Qual. Er war unwiderstehlich liebenswürdig geblieben, und sie konnte seine Gegenwart nicht mehr entbehren. Daß sie ihm nicht mehr gefiel, fand sie natürlich und rechnete es ihm nicht zum Vorwurf. Sie fühlte, daß sie nicht mehr Dieselbe war, daß ein verstummtes, meist verweintes Mädchen, unfähig, ihre Stimmung zu beherrschen, diesen Mann nothwendig langweilen mußte. Ihre Berufsthätigkeit ward ihr eben so aufreibend, als der Liebeskummer. Früher ertrug sie eine Reihe ohrenzerreißender Klavierstunden nur in der Hoffnung des holden Abends, der die tagelange Geduld krönen sollte. Jetzt spannte jeder Mißgriff der Schülerin empfindlich ihre überreizten Nerven. In einer Stunde, als ein Mädchen, das alles musikalischen Gehörs entbehrte, immer mit der rechten Hand eine Dur-Terz zu einem Moll-Accord in der

Zuge zu seiner gefährlichen Nähe. Nun wollte sie fröhlich, gefällig, unbefangen erscheinen, und lauschte doch nur mit bangem Herzklopfen auf ein Zeichen der Sehnsucht, der bangen Leidenschaftsglut aus seinem Munde. Aber wehe, dies Auge blieb immer klar und freundlich, diese Stimme blieb mild und herzlich wie die eines Vaters, aber sie erbebte nicht. Wurde Ida einmal von einer Erinnerung überwältigt, lockte ein Lied, dessen Worte Selvar einst als Dolmetscher seiner heimlichen Neigung vorsichtig und nur ihr deutlich wiederholt hatte, ihr Thränen ins Auge, so ward er kühlhöflich und lenkte das Gespräch auf allgemeine Dinge.

Sie verzehrte sich in Qual. Er war unwiderstehlich liebenswürdig geblieben, und sie konnte seine Gegenwart nicht mehr entbehren. Daß sie ihm nicht mehr gefiel, fand sie natürlich und rechnete es ihm nicht zum Vorwurf. Sie fühlte, daß sie nicht mehr Dieselbe war, daß ein verstummtes, meist verweintes Mädchen, unfähig, ihre Stimmung zu beherrschen, diesen Mann nothwendig langweilen mußte. Ihre Berufsthätigkeit ward ihr eben so aufreibend, als der Liebeskummer. Früher ertrug sie eine Reihe ohrenzerreißender Klavierstunden nur in der Hoffnung des holden Abends, der die tagelange Geduld krönen sollte. Jetzt spannte jeder Mißgriff der Schülerin empfindlich ihre überreizten Nerven. In einer Stunde, als ein Mädchen, das alles musikalischen Gehörs entbehrte, immer mit der rechten Hand eine Dur-Terz zu einem Moll-Accord in der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0037"/>
Zuge zu seiner gefährlichen Nähe. Nun wollte sie fröhlich, gefällig, unbefangen      erscheinen, und lauschte doch nur mit bangem Herzklopfen auf ein Zeichen der Sehnsucht, der      bangen Leidenschaftsglut aus seinem Munde. Aber wehe, dies Auge blieb immer klar und      freundlich, diese Stimme blieb mild und herzlich wie die eines Vaters, aber sie erbebte nicht.      Wurde Ida einmal von einer Erinnerung überwältigt, lockte ein Lied, dessen Worte Selvar einst      als Dolmetscher seiner heimlichen Neigung vorsichtig und nur ihr deutlich wiederholt hatte, ihr      Thränen ins Auge, so ward er kühlhöflich und lenkte das Gespräch auf allgemeine Dinge.</p><lb/>
        <p>Sie verzehrte sich in Qual. Er war unwiderstehlich liebenswürdig geblieben, und sie konnte      seine Gegenwart nicht mehr entbehren. Daß sie ihm nicht mehr gefiel, fand sie natürlich und      rechnete es ihm nicht zum Vorwurf. Sie fühlte, daß sie nicht mehr Dieselbe war, daß ein      verstummtes, meist verweintes Mädchen, unfähig, ihre Stimmung zu beherrschen, diesen Mann      nothwendig langweilen mußte. Ihre Berufsthätigkeit ward ihr eben so aufreibend, als der      Liebeskummer. Früher ertrug sie eine Reihe ohrenzerreißender Klavierstunden nur in der Hoffnung      des holden Abends, der die tagelange Geduld krönen sollte. Jetzt spannte jeder Mißgriff der      Schülerin empfindlich ihre überreizten Nerven. In einer Stunde, als ein Mädchen, das alles      musikalischen Gehörs entbehrte, immer mit der rechten Hand eine Dur-Terz zu einem Moll-Accord      in der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] Zuge zu seiner gefährlichen Nähe. Nun wollte sie fröhlich, gefällig, unbefangen erscheinen, und lauschte doch nur mit bangem Herzklopfen auf ein Zeichen der Sehnsucht, der bangen Leidenschaftsglut aus seinem Munde. Aber wehe, dies Auge blieb immer klar und freundlich, diese Stimme blieb mild und herzlich wie die eines Vaters, aber sie erbebte nicht. Wurde Ida einmal von einer Erinnerung überwältigt, lockte ein Lied, dessen Worte Selvar einst als Dolmetscher seiner heimlichen Neigung vorsichtig und nur ihr deutlich wiederholt hatte, ihr Thränen ins Auge, so ward er kühlhöflich und lenkte das Gespräch auf allgemeine Dinge. Sie verzehrte sich in Qual. Er war unwiderstehlich liebenswürdig geblieben, und sie konnte seine Gegenwart nicht mehr entbehren. Daß sie ihm nicht mehr gefiel, fand sie natürlich und rechnete es ihm nicht zum Vorwurf. Sie fühlte, daß sie nicht mehr Dieselbe war, daß ein verstummtes, meist verweintes Mädchen, unfähig, ihre Stimmung zu beherrschen, diesen Mann nothwendig langweilen mußte. Ihre Berufsthätigkeit ward ihr eben so aufreibend, als der Liebeskummer. Früher ertrug sie eine Reihe ohrenzerreißender Klavierstunden nur in der Hoffnung des holden Abends, der die tagelange Geduld krönen sollte. Jetzt spannte jeder Mißgriff der Schülerin empfindlich ihre überreizten Nerven. In einer Stunde, als ein Mädchen, das alles musikalischen Gehörs entbehrte, immer mit der rechten Hand eine Dur-Terz zu einem Moll-Accord in der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/37
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/37>, abgerufen am 27.11.2024.