Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Stück vortrüge, allen Rondo brillants, Fantaisies sur des themes favoris, ja dem ganzen parfümirten Verlage von Schott's Söhnen in Mainz die Schleußen so viel weiter eröffnet würden. Ihr treuer Erard'scher Flügel erschien ihr profanirt, und nachdem sie den "Henri Herz" erst in eine Ecke geschleudert und dann erschrocken als ein Geschenk des Geliebten wieder aufgehoben, geküßt und sanft aus den Tisch gelegt, nahm sie die "chromatische Phantasie" hervor und entsühnte damit die Saiten.

Plötzlich fuhr's ihr durch den Sinn: Dies Opfer ist nicht durchzuführen und kann gar nicht von mir verlangt werden. Wäre ich über die volle Tageszeit Herr, wie sonst, so wendete ich ein paar Stunden an diese Monstremusik und erholte mich nachher am Vortrefflichsten. Aber jetzt, da ich sechs Stunden unterrichte und fast jeden Abend in Waldheim zubringe, muß ich geistig verschmachten, wenn mir die wenigen Mußestunden geraubt werden. Er wird das begreifen, wenn ich ihm schildere, wie dieser Henri Herz mich ums Leben bringt. Aber das Andere kann ich: italienische Opern singen lernen. Die kosten weniger Zeit und machen ihm eben so viel Freude.

Sie ließ sogleich Bellini'sche Arien holen und versuchte sie in der modernen Prima-Donnen-Manier zu singen. Fast mußte sie über sich selbst lachen; denn sie kam sich vor, als probire sie eine Maskeraden-Toilette.

Wie kann Selvar glauben, rief sie, daß solche

Stück vortrüge, allen Rondo brillants, Fantaisies sur des thèmes favoris, ja dem ganzen parfümirten Verlage von Schott's Söhnen in Mainz die Schleußen so viel weiter eröffnet würden. Ihr treuer Erard'scher Flügel erschien ihr profanirt, und nachdem sie den „Henri Herz“ erst in eine Ecke geschleudert und dann erschrocken als ein Geschenk des Geliebten wieder aufgehoben, geküßt und sanft aus den Tisch gelegt, nahm sie die „chromatische Phantasie“ hervor und entsühnte damit die Saiten.

Plötzlich fuhr's ihr durch den Sinn: Dies Opfer ist nicht durchzuführen und kann gar nicht von mir verlangt werden. Wäre ich über die volle Tageszeit Herr, wie sonst, so wendete ich ein paar Stunden an diese Monstremusik und erholte mich nachher am Vortrefflichsten. Aber jetzt, da ich sechs Stunden unterrichte und fast jeden Abend in Waldheim zubringe, muß ich geistig verschmachten, wenn mir die wenigen Mußestunden geraubt werden. Er wird das begreifen, wenn ich ihm schildere, wie dieser Henri Herz mich ums Leben bringt. Aber das Andere kann ich: italienische Opern singen lernen. Die kosten weniger Zeit und machen ihm eben so viel Freude.

Sie ließ sogleich Bellini'sche Arien holen und versuchte sie in der modernen Prima-Donnen-Manier zu singen. Fast mußte sie über sich selbst lachen; denn sie kam sich vor, als probire sie eine Maskeraden-Toilette.

Wie kann Selvar glauben, rief sie, daß solche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0028"/>
Stück vortrüge, allen Rondo brillants, Fantaisies sur des thèmes favoris, ja dem ganzen      parfümirten Verlage von Schott's Söhnen in Mainz die Schleußen so viel weiter eröffnet würden.      Ihr treuer Erard'scher Flügel erschien ihr profanirt, und nachdem sie den &#x201E;Henri Herz&#x201C; erst in      eine Ecke geschleudert und dann erschrocken als ein Geschenk des Geliebten wieder aufgehoben,      geküßt und sanft aus den Tisch gelegt, nahm sie die &#x201E;chromatische Phantasie&#x201C; hervor und      entsühnte damit die Saiten.</p><lb/>
        <p>Plötzlich fuhr's ihr durch den Sinn: Dies Opfer ist nicht durchzuführen und kann gar nicht      von mir verlangt werden. Wäre ich über die volle Tageszeit Herr, wie sonst, so wendete ich ein      paar Stunden an diese Monstremusik und erholte mich nachher am Vortrefflichsten. Aber jetzt, da      ich sechs Stunden unterrichte und fast jeden Abend in Waldheim zubringe, muß ich geistig      verschmachten, wenn mir die wenigen Mußestunden geraubt werden. Er wird das begreifen, wenn ich      ihm schildere, wie dieser Henri Herz mich ums Leben bringt. Aber das Andere kann ich:      italienische Opern singen lernen. Die kosten weniger Zeit und machen ihm eben so viel      Freude.</p><lb/>
        <p>Sie ließ sogleich Bellini'sche Arien holen und versuchte sie in der modernen      Prima-Donnen-Manier zu singen. Fast mußte sie über sich selbst lachen; denn sie kam sich vor,      als probire sie eine Maskeraden-Toilette.</p><lb/>
        <p>Wie kann Selvar glauben, rief sie, daß solche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0028] Stück vortrüge, allen Rondo brillants, Fantaisies sur des thèmes favoris, ja dem ganzen parfümirten Verlage von Schott's Söhnen in Mainz die Schleußen so viel weiter eröffnet würden. Ihr treuer Erard'scher Flügel erschien ihr profanirt, und nachdem sie den „Henri Herz“ erst in eine Ecke geschleudert und dann erschrocken als ein Geschenk des Geliebten wieder aufgehoben, geküßt und sanft aus den Tisch gelegt, nahm sie die „chromatische Phantasie“ hervor und entsühnte damit die Saiten. Plötzlich fuhr's ihr durch den Sinn: Dies Opfer ist nicht durchzuführen und kann gar nicht von mir verlangt werden. Wäre ich über die volle Tageszeit Herr, wie sonst, so wendete ich ein paar Stunden an diese Monstremusik und erholte mich nachher am Vortrefflichsten. Aber jetzt, da ich sechs Stunden unterrichte und fast jeden Abend in Waldheim zubringe, muß ich geistig verschmachten, wenn mir die wenigen Mußestunden geraubt werden. Er wird das begreifen, wenn ich ihm schildere, wie dieser Henri Herz mich ums Leben bringt. Aber das Andere kann ich: italienische Opern singen lernen. Die kosten weniger Zeit und machen ihm eben so viel Freude. Sie ließ sogleich Bellini'sche Arien holen und versuchte sie in der modernen Prima-Donnen-Manier zu singen. Fast mußte sie über sich selbst lachen; denn sie kam sich vor, als probire sie eine Maskeraden-Toilette. Wie kann Selvar glauben, rief sie, daß solche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/28
Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/28>, abgerufen am 27.11.2024.