Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nach den ersten Seiten weggeworfen; eine affectirte Passage reichte hin, mir eine ganz anmuthige Melodie, die vielleicht nicht ohne Seele war, zu verleiden. Eben so ungerecht habe ich ja einem Menschen mit modischer Frisur bisher keinen großen Gedanken zutrauen können. Diesem Gedankengange schloß Selvar unbewußt noch einige Bemerkungen an, die Ida in ihrem Toleranzentschluß bestärkten. Er sagte: Sie haben in Ihrer schönen Begeisterung mich so oft überzeugt, daß Ihr Gluck, Ihr Händel und Ihre anderen Abgötter die heiligsten Menschengefühle, das größte Geschick, das Sterbliche treffen kann, uns in Tönen wieder erschließen. Aber wie wenige Menschen haben Ungeheures erlebt oder sind befähigt, es zu verstehen. Wie fern liegt uns die Sympathie für eine Armida, eine Alceste! Diese Fabelwesen haben kaum einen Anspruch an unser Mitgefühl, und wir müssten uns vorher in eine erhöhte Stimmung schrauben, die wir unmöglich jeden Abend zur Theestunde heraufbeschwören können. Sollen wir Salonmenschen mit unsern Salonschmerzen, die wahrlich oft nicht geringer sind als die eines zerschnürten Herzens, sollen wir völlig unberechtigt sein, eine Kunst zu cultiviren, die eben unsere Leiden ausspricht? So wie die feine Sitte, die Grazie der äußern Erscheinung jeden rohen Ausbruch der Leidenschaft verhüllt, so umschleiern Rossini's und seiner Nachfolger reizende Fiorituren die tieferen Ausdrücke eines Wehegefühls, das uns ohne diesen Schmuck peinlich afficiren würde. nach den ersten Seiten weggeworfen; eine affectirte Passage reichte hin, mir eine ganz anmuthige Melodie, die vielleicht nicht ohne Seele war, zu verleiden. Eben so ungerecht habe ich ja einem Menschen mit modischer Frisur bisher keinen großen Gedanken zutrauen können. Diesem Gedankengange schloß Selvar unbewußt noch einige Bemerkungen an, die Ida in ihrem Toleranzentschluß bestärkten. Er sagte: Sie haben in Ihrer schönen Begeisterung mich so oft überzeugt, daß Ihr Gluck, Ihr Händel und Ihre anderen Abgötter die heiligsten Menschengefühle, das größte Geschick, das Sterbliche treffen kann, uns in Tönen wieder erschließen. Aber wie wenige Menschen haben Ungeheures erlebt oder sind befähigt, es zu verstehen. Wie fern liegt uns die Sympathie für eine Armida, eine Alceste! Diese Fabelwesen haben kaum einen Anspruch an unser Mitgefühl, und wir müssten uns vorher in eine erhöhte Stimmung schrauben, die wir unmöglich jeden Abend zur Theestunde heraufbeschwören können. Sollen wir Salonmenschen mit unsern Salonschmerzen, die wahrlich oft nicht geringer sind als die eines zerschnürten Herzens, sollen wir völlig unberechtigt sein, eine Kunst zu cultiviren, die eben unsere Leiden ausspricht? So wie die feine Sitte, die Grazie der äußern Erscheinung jeden rohen Ausbruch der Leidenschaft verhüllt, so umschleiern Rossini's und seiner Nachfolger reizende Fiorituren die tieferen Ausdrücke eines Wehegefühls, das uns ohne diesen Schmuck peinlich afficiren würde. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0026"/> nach den ersten Seiten weggeworfen; eine affectirte Passage reichte hin, mir eine ganz anmuthige Melodie, die vielleicht nicht ohne Seele war, zu verleiden. Eben so ungerecht habe ich ja einem Menschen mit modischer Frisur bisher keinen großen Gedanken zutrauen können.</p><lb/> <p>Diesem Gedankengange schloß Selvar unbewußt noch einige Bemerkungen an, die Ida in ihrem Toleranzentschluß bestärkten. Er sagte: Sie haben in Ihrer schönen Begeisterung mich so oft überzeugt, daß Ihr Gluck, Ihr Händel und Ihre anderen Abgötter die heiligsten Menschengefühle, das größte Geschick, das Sterbliche treffen kann, uns in Tönen wieder erschließen. Aber wie wenige Menschen haben Ungeheures erlebt oder sind befähigt, es zu verstehen. Wie fern liegt uns die Sympathie für eine Armida, eine Alceste! Diese Fabelwesen haben kaum einen Anspruch an unser Mitgefühl, und wir müssten uns vorher in eine erhöhte Stimmung schrauben, die wir unmöglich jeden Abend zur Theestunde heraufbeschwören können. Sollen wir Salonmenschen mit unsern Salonschmerzen, die wahrlich oft nicht geringer sind als die eines zerschnürten Herzens, sollen wir völlig unberechtigt sein, eine Kunst zu cultiviren, die eben unsere Leiden ausspricht? So wie die feine Sitte, die Grazie der äußern Erscheinung jeden rohen Ausbruch der Leidenschaft verhüllt, so umschleiern Rossini's und seiner Nachfolger reizende Fiorituren die tieferen Ausdrücke eines Wehegefühls, das uns ohne diesen Schmuck peinlich afficiren würde.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
nach den ersten Seiten weggeworfen; eine affectirte Passage reichte hin, mir eine ganz anmuthige Melodie, die vielleicht nicht ohne Seele war, zu verleiden. Eben so ungerecht habe ich ja einem Menschen mit modischer Frisur bisher keinen großen Gedanken zutrauen können.
Diesem Gedankengange schloß Selvar unbewußt noch einige Bemerkungen an, die Ida in ihrem Toleranzentschluß bestärkten. Er sagte: Sie haben in Ihrer schönen Begeisterung mich so oft überzeugt, daß Ihr Gluck, Ihr Händel und Ihre anderen Abgötter die heiligsten Menschengefühle, das größte Geschick, das Sterbliche treffen kann, uns in Tönen wieder erschließen. Aber wie wenige Menschen haben Ungeheures erlebt oder sind befähigt, es zu verstehen. Wie fern liegt uns die Sympathie für eine Armida, eine Alceste! Diese Fabelwesen haben kaum einen Anspruch an unser Mitgefühl, und wir müssten uns vorher in eine erhöhte Stimmung schrauben, die wir unmöglich jeden Abend zur Theestunde heraufbeschwören können. Sollen wir Salonmenschen mit unsern Salonschmerzen, die wahrlich oft nicht geringer sind als die eines zerschnürten Herzens, sollen wir völlig unberechtigt sein, eine Kunst zu cultiviren, die eben unsere Leiden ausspricht? So wie die feine Sitte, die Grazie der äußern Erscheinung jeden rohen Ausbruch der Leidenschaft verhüllt, so umschleiern Rossini's und seiner Nachfolger reizende Fiorituren die tieferen Ausdrücke eines Wehegefühls, das uns ohne diesen Schmuck peinlich afficiren würde.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/26 |
Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/26>, abgerufen am 16.02.2025. |