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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Versteht denn Ihr Mund auch so zu singen, wie Ihre Finger? fragte er.

Der Gesang ist mein Fach nicht, doch singe ich gerne Lieder, deren Text meiner Stimmung entspricht; aber die kann ich nur gut vortragen, wenn ich allien bin; vor Zuhörern glaube ich mein Innerstes zu verrathen, wenn ich ausdrucksvoll singe.

Das ist eine zu unkünstlerische Gesinnung, als daß ich sie Ihnen zutrauen könnte.

Nach einigen Weigerungen, die ihr übrigens ganz ernst gemeint waren, sang Ida mit einer vollen tiefer Altstimme einige überaus schöne Volkslieder fremden Nationen, deren Uebersetzungen in diesem Kreise noch unbekannt waren.

Selvar war völlig hingerissen; seine von den Jahren nie herabgestimmte enthusiastische Statur verleitete ihn zu Ausdrücken der Bewunderung, welche eben so begeisternd auf die Sängerin zurückwirkten. Die verschlossene Glut ihrer Seele machte sich Luft in schmelzenden, jubelnden, verzweifelten und schalkhaften Liedern, und Blitz auf Blitz entzündeten diese noch nicht ganz erloschene jugendliche Empfindungen im Herzen ihres Zuhörers. So unerschöpflich ihr Gedächtniß, so unersättlich war er im Belauschen ihrer schönen Lieder. Den Andern ward es denn doch endlich zu viel. Erst hatten sie mit um Mehr gebeten; dann zogen sie sich aus dem Cabinet, worin das Klavier stand, in den anstoßenden Salon zurück, um verstohlen neben der

Versteht denn Ihr Mund auch so zu singen, wie Ihre Finger? fragte er.

Der Gesang ist mein Fach nicht, doch singe ich gerne Lieder, deren Text meiner Stimmung entspricht; aber die kann ich nur gut vortragen, wenn ich allien bin; vor Zuhörern glaube ich mein Innerstes zu verrathen, wenn ich ausdrucksvoll singe.

Das ist eine zu unkünstlerische Gesinnung, als daß ich sie Ihnen zutrauen könnte.

Nach einigen Weigerungen, die ihr übrigens ganz ernst gemeint waren, sang Ida mit einer vollen tiefer Altstimme einige überaus schöne Volkslieder fremden Nationen, deren Uebersetzungen in diesem Kreise noch unbekannt waren.

Selvar war völlig hingerissen; seine von den Jahren nie herabgestimmte enthusiastische Statur verleitete ihn zu Ausdrücken der Bewunderung, welche eben so begeisternd auf die Sängerin zurückwirkten. Die verschlossene Glut ihrer Seele machte sich Luft in schmelzenden, jubelnden, verzweifelten und schalkhaften Liedern, und Blitz auf Blitz entzündeten diese noch nicht ganz erloschene jugendliche Empfindungen im Herzen ihres Zuhörers. So unerschöpflich ihr Gedächtniß, so unersättlich war er im Belauschen ihrer schönen Lieder. Den Andern ward es denn doch endlich zu viel. Erst hatten sie mit um Mehr gebeten; dann zogen sie sich aus dem Cabinet, worin das Klavier stand, in den anstoßenden Salon zurück, um verstohlen neben der

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[0017] Versteht denn Ihr Mund auch so zu singen, wie Ihre Finger? fragte er. Der Gesang ist mein Fach nicht, doch singe ich gerne Lieder, deren Text meiner Stimmung entspricht; aber die kann ich nur gut vortragen, wenn ich allien bin; vor Zuhörern glaube ich mein Innerstes zu verrathen, wenn ich ausdrucksvoll singe. Das ist eine zu unkünstlerische Gesinnung, als daß ich sie Ihnen zutrauen könnte. Nach einigen Weigerungen, die ihr übrigens ganz ernst gemeint waren, sang Ida mit einer vollen tiefer Altstimme einige überaus schöne Volkslieder fremden Nationen, deren Uebersetzungen in diesem Kreise noch unbekannt waren. Selvar war völlig hingerissen; seine von den Jahren nie herabgestimmte enthusiastische Statur verleitete ihn zu Ausdrücken der Bewunderung, welche eben so begeisternd auf die Sängerin zurückwirkten. Die verschlossene Glut ihrer Seele machte sich Luft in schmelzenden, jubelnden, verzweifelten und schalkhaften Liedern, und Blitz auf Blitz entzündeten diese noch nicht ganz erloschene jugendliche Empfindungen im Herzen ihres Zuhörers. So unerschöpflich ihr Gedächtniß, so unersättlich war er im Belauschen ihrer schönen Lieder. Den Andern ward es denn doch endlich zu viel. Erst hatten sie mit um Mehr gebeten; dann zogen sie sich aus dem Cabinet, worin das Klavier stand, in den anstoßenden Salon zurück, um verstohlen neben der

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/17>, abgerufen am 23.11.2024.