Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.alle Tage, während man bei einem Oratorium von Bach oder Händel vor Langeweile einschläft. Wer sich bei diesen Meistern langweilen kann, erwiderte Ida, dem traue ich überhaupt keinen Kunstsinn zu. Es ist vielleicht eine Trägheit des Denkens in vielen musikalisch begabten Menschen, die sie verlockt, sich mit halbem Ohr und halber Seele dem sinnlichen Reiz einer schmeichelnden Melodie hinzugeben, ohne Rechenschaft zu verlangen, ob dieses die wahre und edle Kunst ist. Könnten Sie sich einmal überwinden, Frau Gräfin, den Gang jeder Einzelstimme in einer Bach'schen Fuge aufmerksam zu verfolgen, oder eine Sonate von Beethoven so zu studiren, daß Sie die Unendlichkeit ihrer Tiefe empfänden, Sie würden nach solch einem geistigen Genießen gar nicht mehr zu jener faden Spielerei mit Tönen zurückkehren mögen. Die Gräfin lachte und meinte, wozu sie sich denn die Mühe eines anstrengenden Studiums geben solle, wenn die leichte Musik, die sie von selbst begriffe, eben so angenehm klänge. Das mag für die gelehrten Musiker sein, fügte sie hinzu, die den sogenannten Contrapunkt verstehen. Für uns genügt eine Melodie, die oben liegt und die vom Baß und den Mittelstimmen nicht weiter behelligt wird. Die künstliche Ausarbeitung ist nur Schuld, daß man das Schönste nicht mehr klar versteht. Es ist gewiß Zeichen eines feinern Geschmacks, daß die Italiener so elegant und einfach componiren. alle Tage, während man bei einem Oratorium von Bach oder Händel vor Langeweile einschläft. Wer sich bei diesen Meistern langweilen kann, erwiderte Ida, dem traue ich überhaupt keinen Kunstsinn zu. Es ist vielleicht eine Trägheit des Denkens in vielen musikalisch begabten Menschen, die sie verlockt, sich mit halbem Ohr und halber Seele dem sinnlichen Reiz einer schmeichelnden Melodie hinzugeben, ohne Rechenschaft zu verlangen, ob dieses die wahre und edle Kunst ist. Könnten Sie sich einmal überwinden, Frau Gräfin, den Gang jeder Einzelstimme in einer Bach'schen Fuge aufmerksam zu verfolgen, oder eine Sonate von Beethoven so zu studiren, daß Sie die Unendlichkeit ihrer Tiefe empfänden, Sie würden nach solch einem geistigen Genießen gar nicht mehr zu jener faden Spielerei mit Tönen zurückkehren mögen. Die Gräfin lachte und meinte, wozu sie sich denn die Mühe eines anstrengenden Studiums geben solle, wenn die leichte Musik, die sie von selbst begriffe, eben so angenehm klänge. Das mag für die gelehrten Musiker sein, fügte sie hinzu, die den sogenannten Contrapunkt verstehen. Für uns genügt eine Melodie, die oben liegt und die vom Baß und den Mittelstimmen nicht weiter behelligt wird. Die künstliche Ausarbeitung ist nur Schuld, daß man das Schönste nicht mehr klar versteht. Es ist gewiß Zeichen eines feinern Geschmacks, daß die Italiener so elegant und einfach componiren. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0015"/> alle Tage, während man bei einem Oratorium von Bach oder Händel vor Langeweile einschläft.</p><lb/> <p>Wer sich bei diesen Meistern langweilen kann, erwiderte Ida, dem traue ich überhaupt keinen Kunstsinn zu. Es ist vielleicht eine Trägheit des Denkens in vielen musikalisch begabten Menschen, die sie verlockt, sich mit halbem Ohr und halber Seele dem sinnlichen Reiz einer schmeichelnden Melodie hinzugeben, ohne Rechenschaft zu verlangen, ob dieses die wahre und edle Kunst ist. Könnten Sie sich einmal überwinden, Frau Gräfin, den Gang jeder Einzelstimme in einer Bach'schen Fuge aufmerksam zu verfolgen, oder eine Sonate von Beethoven so zu studiren, daß Sie die Unendlichkeit ihrer Tiefe empfänden, Sie würden nach solch einem geistigen Genießen gar nicht mehr zu jener faden Spielerei mit Tönen zurückkehren mögen.</p><lb/> <p>Die Gräfin lachte und meinte, wozu sie sich denn die Mühe eines anstrengenden Studiums geben solle, wenn die leichte Musik, die sie von selbst begriffe, eben so angenehm klänge. Das mag für die gelehrten Musiker sein, fügte sie hinzu, die den sogenannten Contrapunkt verstehen. Für uns genügt eine Melodie, die oben liegt und die vom Baß und den Mittelstimmen nicht weiter behelligt wird. Die künstliche Ausarbeitung ist nur Schuld, daß man das Schönste nicht mehr klar versteht. Es ist gewiß Zeichen eines feinern Geschmacks, daß die Italiener so elegant und einfach componiren.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
alle Tage, während man bei einem Oratorium von Bach oder Händel vor Langeweile einschläft.
Wer sich bei diesen Meistern langweilen kann, erwiderte Ida, dem traue ich überhaupt keinen Kunstsinn zu. Es ist vielleicht eine Trägheit des Denkens in vielen musikalisch begabten Menschen, die sie verlockt, sich mit halbem Ohr und halber Seele dem sinnlichen Reiz einer schmeichelnden Melodie hinzugeben, ohne Rechenschaft zu verlangen, ob dieses die wahre und edle Kunst ist. Könnten Sie sich einmal überwinden, Frau Gräfin, den Gang jeder Einzelstimme in einer Bach'schen Fuge aufmerksam zu verfolgen, oder eine Sonate von Beethoven so zu studiren, daß Sie die Unendlichkeit ihrer Tiefe empfänden, Sie würden nach solch einem geistigen Genießen gar nicht mehr zu jener faden Spielerei mit Tönen zurückkehren mögen.
Die Gräfin lachte und meinte, wozu sie sich denn die Mühe eines anstrengenden Studiums geben solle, wenn die leichte Musik, die sie von selbst begriffe, eben so angenehm klänge. Das mag für die gelehrten Musiker sein, fügte sie hinzu, die den sogenannten Contrapunkt verstehen. Für uns genügt eine Melodie, die oben liegt und die vom Baß und den Mittelstimmen nicht weiter behelligt wird. Die künstliche Ausarbeitung ist nur Schuld, daß man das Schönste nicht mehr klar versteht. Es ist gewiß Zeichen eines feinern Geschmacks, daß die Italiener so elegant und einfach componiren.
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/15>, abgerufen am 16.02.2025. |